Neuanfang und Hilfe für die Verfolgten des Naziregimes

17. April 2020

Die Wiederherstellung der alltäglichen Lebensgrundlagen in der Stadt (Strom, Gas, Wasser, Versorgung) war durch die Kriegsfolgen nicht einfach und führte zu manchen Einschränkungen bei der Kasseler Bevölkerung. Wer sich hierüber beschweren wollte, musste aber auch darüber nachdenken, wer diesen Krieg unterstützt hatte – und das war nicht allein Hitler.

Es gab in dieser Zeit nur eine Gruppe von Deutschen, die offiziell von den Alliierten bevorzugt wurden. Das waren die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung, die aus den KZs und Haftanstalten befreit zurückkehrten.

Für sie wurde auf Anordnung der Amerikaner im Rathaus, im Zimmer 112, eine Betreuungsstelle für entlassene politische Häftlinge eingerichtet. Der Leiter dieser Einrichtung, die unmittelbar dem Oberbürgermeister unter-stand, war Erwin Cohn, ein ehemaliger Verfolgter. Diese Betreuungsstelle „hilft mit Rat, Geld, Fahrtausweisen. Sie weist in Privatquartiere ein und verschafft, wenn möglich einen Platz im Erholungsheim. Sie versucht Arbeitsstellen zu vermitteln“, heißt es in einem großen Bericht der “Hessischen Post“ vom 30. Juni 1945. Dabei war diese Betreuungsstelle nicht allein für Kasseler, sondern für politische Häftlinge jeder Nationalität zuständig.

Längerfristige Unterstützung konnte jedoch nur rückkehrenden Kasseler Verfolgten gewährt werden. Manchen von ihnen wurde es ermöglicht, einige Zeit im Gnadenweg 7, im “Kameradschafts- und Erholungsheim der Stadt Kassel“, unterzukommen. „Hier erhalten sie vier Mahlzeiten am Tag und leben unter gesundheitlich zufriedenstellenden Verhältnissen. Ein Mann nahm hier in vier Wochen 14 Pfund zu. Die einzige Beschwerde besteht darin, dass sie keine Rauchwaren erhalten“, berichtete die “Hessische Post“. Angesichts der erlittenen körperlichen und seelischen Qualen war dies nur angemessen. Der Verwaltungsbericht der Stadt Kassel berichtet, dass vom 28. Mai 1945 bis Juni 1946 90 ehemalige KZ-Häftlinge mit zusammen 2300 Verpflegungstagen in diesem Haus untergebracht waren.

Doch damit waren die Probleme der zurückkehrenden Kasseler Häftlinge nicht gelöst, wie Hans Spill berichtet. Spill selbst war 1935 wegen “Vorbereitung zum Hochverrat“ ins Zuchthaus Wehlheiden gekommen und 1941 im KZ Sachsenhausen und danach Mauthausen inhaftiert worden. Ende Mai 1945 kehrte er nach Kassel zurück.

Er erzählt: „Also es fehlte alles. Meine Aufgabe war es zu organisieren, und das tat ich dann auch. Es war zwar eine Betreuungsstelle für politische Häftlinge im Rathaus eingerichtet, aber auch sie waren nicht in der Lage, alle Bedürfnisse zu erfüllen. Es hieß nun Eigeninitiative zu entwickeln.“

So besorgte er sich aus einem ehemaligen Arbeitsdienstlager in Harleshausen ein paar Schlafdecken. Aus dem Keller des Aschrottheims, das von den Amerikanern requiriert worden war, erhielt er nach einigem hin und her ein Federbett. Er hatte zwar Bezugsscheine, z.B. für einen Kochtopf, aber auch den bekam er nur durch Organisieren. Als ehemaligen Verfolgten wurde ihm zwar recht schnell Wohnraum zugewiesen, aber die dazugehörigen Möbel fehlten. Wie er dieses Problem lösen konnte, berichtet Hans Spill: „Viele führenden Nationalsozialisten waren in letzter Minute noch abgehauen und hatten ihr Mobiliar in ihren Wohnungen stehen gelassen. In der Gerstäckerstraße wohnte ein ehemaliger Arbeitsdienstführer. Er und seine Familie waren nach Bayern geflüchtet und hatten alles zurückgelassen. Mit Hilfe der Polizei des 1. Reviers durften wir uns benötigte Möbel- und Hausratstücke holen.“

Doch während der Leiter der Kasseler Betreuungsstelle von einer “heiligen Verpflichtung gegenüber diesen Menschen, die so viele Jahre tapfer durchgehalten und fast Übermenschliches erduldet“ hatten, sprach, sahen manche Mitbürger in Kassel das anders. Sehr bald kursierten Gerüchte über das “Wohlleben der KZler“ und Beschwerden über deren “Privilegierung“ in der Stadt. Schon wenige Wochen nach dem Ende hatte manch einer verdrängt, wie der Naziterror auch gegen Gegner in der eigenen Bevölkerung vorgegangen war, und wer tatsächlich versucht hatte, ungeachtet der Bedrohung für Freiheit und Leben, Widerstand zu leisten.

Daher wurde es den ehemaligen KZ-Häftlinge schnell klar, dass soziale Betreuungsarbeit und politische Arbeit zusammengehören, wie Ullrich Reinbach berichtete:

„In Kassel wollen wir nicht lediglich eine Betreuungsstelle haben, die zunächst einmal nichts weiter macht, als für die materiellen Dinge der Opfer des Faschismus zu sorgen, sondern wir wollen wirklich einen aktiven Block auf überparteilicher Grundlage schaffen, einen Bund, der sich für die neuaufzubauende Demokratie einsetzt.“

Und so entstand in Kassel im Herbst 1945 der “Bund ehemaliger politischer Gefangener“ mit August Cohn, Karl Eckerlin, Max Mayr, Ullrich Reinbach, Fritz Schmidt, Hans Spill und vielen anderen, aus dem 1946 die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) hervorging.

 

Wir vergessen nicht! Virtuelles Buchenwald-Gedenken 2020

10. April 2020

In diesem Jahr begehen wir am 11. April den 75. Jahrestag der Selbstbefreiung der Häftlinge des KZ Buchenwald. Mit der bewaffneten Aktion des Internationalen Lagerkomitees gelang es 21.000 Häftlinge des Lagers, unter ihnen über 900 Kinder und Jugendliche, vor ihrer Vernichtung durch die SS oder Todesmärschen zu retten.

Im Ergebnis dieser Selbstbefreiung traten die überlebenden Häftlinge am 19. April 1945 selbstbewusst zu ihrem Freiheitsappell an und formulierten in ihren jeweiligen Sprachen den „Schwur von Buchenwald“. Darin schworen sie: „Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht! Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.
Das sind wir unseren gemordeten Kameraden, ihren Angehörigen schuldig.“
Dieser Schwur ist das politische Vermächtnis von Antifaschisten in aller Welt bis heute.

Bekanntlich sind in diesem Jahr jedoch sämtliche Veranstaltungen zum Gedenken an dieses historische Ereignis, insbesondere die große Kundgebung des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos (IKBD) Anfang April 2020 auf dem Ettersberg aufgrund der Corona-Krise abgesagt worden.

So entstand der Vorschlag eines „virtuellen Buchenwald-Gedenkens 2020“, um die Erinnerung lebendig zu halten. Mitglieder der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA) begaben sich mit Transparenten zum Buchenwald-Schwur, mit Blumen und Fahnen an die historische Orte oder Erinnerungstafeln (z.B. zu Todesmärschen) und dokumentierten ihr Gedenken. In Kassel wurde an das KZ Außenkommando im Druseltal 85 erinnert und am Einsatzort der Häftlinge bei der SS-Bauleitung Drei Eichen.

Demokratisch durch die Pandemie ! Erklärung der VVN-BdA zu Corona und den Folgen

8. April 2020

Die Corona-Pandemie stellt die Welt plötzlich vor tödliche Gefahren. Das Virus interessiert sich dabei nicht für Politik. Politisch sind allerdings die Reaktionen der Regierungen und Parteien.
Zahlreiche Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten wurden innerhalb kurzer Zeit weltweit eingeführt. Diese Maßnahmen sind objektiv notwendig, um ein Massensterben zu verhindern. Gleichzeitig wird erkennbar, dass in dieser Krise in vielen Ländern bereits zuvor erkennbare autoritäre und restriktive Entwicklungstendenzen verstärkt und beschleunigt werden.
Innerhalb der EU gilt dies insbesondere für die Regierung Ungarns, die die parlamentarische Arbeit auf unbestimmte Zeit hat aussetzen lassen.
Auch in Deutschland gibt es von Seiten der Bundes- und Landesregierungen problematische Äußerungen, Erwägungen, Gesetzesvorhaben und teilweise auch Maßnahmen.
Begleitet werden diese Tendenzen ebenfalls in vielen Ländern durch extrem rechte, xenophobe, rassistische und insbesondere antisemitische Verschwörungstheorien, die sich auf Ursprung, Verbreitung und Folgen der Corona-Pandemie beziehen.

In dieser Situation fordert die VVN-BdA folgendes:

• Begriffe wie „Ausgangssperre“, „Ausnahmezustand“ und „Krieg“ haben in der Krisenbewältigung nichts zu suchen. Sie machen unnötig Angst und suggerieren militärische Lösungen für medizinische und gesellschaftliche Probleme.

• Alle Verordnungen und Maßnahmen müssen konkret begründet, zeitlich befristet, auch durch unabhängige Experten bewertet und ausgewertet werden und auf das notwendige Maß beschränkt sein. Dies gilt jeweils auch für zeitliche Verlängerungen.

• Verordnungen und Maßnahmen müssen Gegenstand parlamentarischer Kontrolle sein.

• Gesetzgeberische Prozesse, insbesondere die sich auf Krisenbewältigung beziehen, sind auf die Zeit nach der Pandemie zu verschieben. Gute Gesetze brauchen Zeit zur Reflexion.

• Notwendige Kontaktbeschränkungen im öffentlichen Raum sind mit Augenmaß durchzusetzen. Spaziergänger sind keine Verbrecher.

• Politische Aktivitäten im öffentlichen Raum, die die notwendigen Einschränkungen beachtet, müssen selbstverständlich möglich sein.

• Besonders gefährdet sind Obdachlose und Geflüchtete. Sie bedürfen einer besonders guten Fürsorge, nicht martialischer Abschottung. Es müssen Maßnahmen für eine angemessene Unterbringung ergriffen werden, z. B. in Hotels.

• Die gefährlichen Lagern an der EU-Außengrenze und in Griechenland müssen aufgelöst und die Geflüchteten evakuiert und dezentral untergebracht und versorgt werden.

• Deutschland muss endlich die Kinder und Jugendlichen, zu deren Aufnahme sich „Solidarische Städte“ bereiterklärt haben, aufnehmen.

• Das Militär kann Transport- und Hilfsdienste leisten, aber nicht Ordnungsmacht im Inneren sein. Die Trennung von Polizei und Militär ist unabdingbar. Bundeswehrsanitätskräfte sind der zivilen Leitung zu unterstellen.

• Die EU muss den Missbrauch der Pandemie zur Festschreibung strukturell antidemokratischer Ziele in ihren Mitgliedsstaaten unterbinden.

• Verschwörungstheoretische Erklärungsmuster, auch wenn sie vorgeben „für das Volk“ zu sprechen, sind zurückzuweisen. Die Krise nutzen wollende faschistische Gruppen sind aufzulösen.

• Nach Abschluss der Pandemie bedarf es einer breiten gesellschaftlichen Auswertung: Welche Maßnahmen haben sich im Nachhinein als richtig erwiesen, auf welche könnte in einem ähnlichen Fall verzichtet werden?

Cornelia Kerth, Axel Holz

Kassels Antifaschisten organisieren sich neu

7. April 2020

Noch war der Krieg in Deutschland nicht zu Ende, dennoch begannen Antifaschisten auch in Kassel mit den Überlegungen für einen demokratischen Neuanfang. Trotz Ausgeh- und Versammlungsverbot kamen schon in den ersten Tagen und Wochen nach der Befreiung Kasseler Nazigegner zusammen, um zu überlegen, wie ein politischer Neuanfang aussehen soll.

Ehemalige Mitglieder der SPD, unter ihnen Rudolf Freidhof, Georg Häring und Hans Nitsche trafen sich zum ersten Mal Mitte April in der Privatwohnung von Karl Hermann in der Frankfurter Str.7 und später in den Räumlichkeiten des Rathauses.

Unter aktiver Beteiligung von Kommunisten entstanden in den stillgelegten Betrieben und einigen Stadtteilen die ersten „antifaschistischen Komitees“. Darüber hinaus fanden sich Einwohner verschiedener politischer Richtungen in „Aufräumungsausschüssen“ zusammen.

Den ersten organisationspolitischen Neuanfang versuchten ehemalige Gewerkschafter, wie Karl Eckerlin, Theo Hüpeden und Paul Pfetzing. Nach einigen Vorgesprächen fand am 25. April 1945 im Rathaus die erste größere Zusammenkunft statt. Nach Informationen von Max Wolff sollen an dieser Versammlung etwa 80 Personen teilgenommen haben. Doch es konnten keine Beschlüsse gefasst werden. Die Versammlung wurde nach kurzer Zeit vom amerikanischen Geheimdienst C.I.C. (Counter Intelligence Corps) aufgelöst. Solche Aktivitäten waren den Besatzungsoffizieren zum damaligen Zeitpunkt suspekt.

Doch damit gaben sich die Initiatoren nicht zufrieden. Paul Pfetzing, Karl Kuba und andere trugen „noch in derselben Woche der amerikanischen Militärregierung für den Stadt- und Landkreis Kassel den auf Wiedererrichtung der freien Gewerkschaft gerichteten Wunsch der Kasseler Arbeiterschaft“ vor, heißt es in einem Schreiben vom 6.Juni 1945. Eine Entscheidung darüber wurde jedoch seitens der Amerikaner „von Woche zu Woche zurückgestellt“.

Die Zeitung der amerikanischen Besatzungsmacht

Die Militäradministration verfolgte damals vorrangig ihre eigenen Projekte, so die Herausgabe einer Zeitung der amerikanischen Streitkräfte für die deutsche Zivilbevölkerung. Diese Idee entstand schon Ende 1944. Unter der Leitung von Hans Habe, dem späteren Verantwortlichen dieser Blätter, wurde über Konzept und Namen entschieden: So entstand die „Hessische Post“.

Als den amerikanischen Truppen in Kassel im Keller des Redaktionsgebäudes der „Kasseler Post“ am Wilhelmshöher Platz 4 die Rotationsmaschinen unversehrt in die Hände fielen, war klar, dass hier die „Hessische Post“ für den mittleren Bereich der amerikanischen Besatzungszone gedruckt werden würde. Die Technik war ausreichend, um eine Millionen-Auflage zu produzieren, die das gesamte Gebiet von Westfalen bis Thüringen und Sachsen, von Südniedersachsen bis Hochtaunus versorgte.

Für die Amerikaner war eine Zeitung aus mehreren Gründen wichtig. Sie sollte die Bevölkerung über die politische und militärische Lage, sowie über die Zielvorstellungen der Alliierten informieren. Damit wollte man den auch in Kassel grassierenden Gerüchten der Boden entziehe. Über eine Zeitung war es außerdem einfacher, die Anordnungen und Befehlen der Besatzungsmacht bzw. der neuen Verwaltungen bekannt zu machen.

Da die „Kurhessische Landeszeitung“ mit dem Ende des Naziregimes ihr Erscheinen eingestellt hatte, erschien am 28.April 1945 die erste Ausgabe der neuen Zeitung. Sie enthielt Nachrichten über die allgemeine militärische Lage, wie „Die Russen im Herzen Berlins“ und „Amerikanischer Vormarsch auf Österreich“, wie auch Meldungen, die das Leben der Menschen vor Ort betrafen. So forderte das Gesundheitsamt der Militärregierung die Bevölkerung von Kassel auf, das Trinkwasser zehn Minuten lang vor Gebrauch abzukochen.

Wie ambivalent dieser journalistische Neuanfang sein konnte, berichtet Stefan Heym – zeitweilig Stellvertreter von Hans Habe – in seiner literarischen Autobiographie: „In Kassel interviewt er (S.H.) den Stadtingenieur: Sagen Sie, wäre es nicht praktischer, den Krempel, wie er ist, einfach stehen und liegen zu lassen und irgendwo nebenan ein neues Kassel hinzustellen? Aber nein doch, antwortet der, unter der Erde ist ja alles noch da, Kanalisation, Wasserleitungen, Kabel. Natürlich hat der Mann recht, und die Hessische Post wird seine Antwort drucken, so wie er sie gegeben hat, und natürlich ist er auch Nazi gewesen, was sonst; der Interviewer hat längst aufgegeben, den Deutschen, mit denen er tagtäglich zu tun hat, die Frage zu stellen: Und wann wurden Sie gezwungen, in die Partei einzutreten ?“

Kassel – Die Befreiung vom Faschismus

3. April 2020

Am 5.April 1945 begann für die Menschen in der Stadt Kassel ein neuer Abschnitt. Der Krieg war vorbei, die Probleme des Überlebens blieben jedoch. Am Morgen nach der Übergabe der Stadt an die amerikanischen Truppen hatten die Menschen eine Sicherheit: Von nun an würde es keinen Fliegeralarm mehr geben, kein stundenlanges Warten in Kellern und Bunkern. Hatte es vorher fast täglich mehrere Stunden Alarme gegeben, konnte man nun sicher sein: die Stadt, die noch stehenden Häuser und das eigene Leben waren durch den Krieg nicht mehr gefährdet. Niemand würde mehr von einem „Endsieg-fanatischen“ Nazi an die Front geschickt werden. Aber dennoch war das Leben für die über 70.000 Menschen in der Stadt, unter ihnen fast 30.000 Zwangsarbeiter, alles andere als normal.

Wie überall entstanden alliierte Kommandanturen. Der amerikanische Stadtkommandant Major Lamson richtete seine Diensträume im 1.Stock des Rathauses, im Flügel Wilhelmsstraße, der nicht so schwer beschädigt war, ein. Und er verfügte „Im Auftrage der Militärregierung“ in einer „Bekanntmachung An die Zivilbevölkerung!“ die Regeln für das weitere öffentliche Leben.

Für Zivilpersonen wurde eine Ausgangssperre bis 6.00 Uhr angeordnet. Die Totalverdunkelung musste beibehalten werden, da die Alliierten vereinzelte Gegenangriffe fürchteten.
Außerdem wurde eine Bewegungssperre verhängt. Ohne besondere Erlaubnis durfte sich niemand mehr als 6 km von seinem Wohnort entfernen, die Benutzung von Motorrädern und privaten Pkws, sowie der Eisenbahnen, wenn sie denn fuhren, bedurfte der Erlaubnis. Radioapparate und Schusswaffen mussten abgeliefert werden. Und da das Fotografieren sowie so verboten war, requirierten die amerikanischen Soldaten alle Kameras, die ihnen bei Haussuchungen und anderen Gelegenheiten in die Hände fielen.
Zeitungen und der gesamte Nachrichtenverkehr wurden erst einmal verboten. Versammlungen von mehr als 5 Personen öffentlich und in Privatwohnungen waren ebenfalls verboten.

All dies diente nicht der Wiederherstellung des öffentlichen Lebens, sondern dem Schutz der Alliierten, waren sie doch in ein feindliches Land gekommen.

Ein Problem für die Amerikaner war, wie diese Anordnung möglichst schnell der gesamten Bevölkerung bekannt gemacht werden konnte. Neben Plakatanschlägen in deutscher und englischer Sprache bedienten sie sich Deutscher, die der englischen Sprache mächtig waren, die sie als „Dolmetscher und Verbindungsmann zwischen der amerikanischen Regierung und der Bevölkerung“ einsetzten. Willi Seidel, der erste Bürgermeister nach 1945, berichtet: „Am Tage der Besetzung Kassels wurde ich von einem Herrn aus der Nachbarschaft (Oberingenieur Hähnel) davon unterrichtet, dass die Ausgehzeit der Deutschen auf 20 Uhr beschränkt sei und alle Waffen abgeliefert werden müssten. Herr Hähnel teilte mir dies im Auftrag eines Herrn d’Oleire mit, der von der Militärregierung als eine Art Vizebürgermeister für den Bezirk Wilhelmshöhe eingesetzt worden sein sollte.“ (Bestand Seidel, Bd.1, Stadtarchiv)

Für die meisten Kasseler Bürger war die Frage der Verwaltung und der Anordnungen der Amerikaner jedoch kein Problem, auch wenn der eine oder andere sich über den Verlust eines Fotoapparates bitterlich beschwerte. Existenzieller war sicherlich, dass der Zusammenbruch der Strom-, Gas- und Wasserversorgung, der schon in den letzten Kriegstagen das Leben der Menschen bestimmt hatte, auch nach der Befreiung zu großen Problemen in der Versorgung führte. Nur die Lebensmittelversorgung bereitete in den ersten Tagen nach der Befreiung wenige Probleme. Waren doch unmittelbar vor dem Ende die Lebensmittellager der Wehrmacht und im Weinbergbunker freigegeben worden. So hatten viele Familien Vorräte anlegen können, die erst Wochen später zur Neige gingen.

Die größte Sorge, die sich in den Berichten der ersten Tage immer wieder zeigt, war die Angst vor den Zwangsarbeitern. Wussten die Kasseler Bürger doch, wie mit ihnen umgegangen worden war, und befürchtete nun, dass diese „den Spieß umdrehen“ könnten. Selbst Willi Seidel sprach von „dem Unwesen der ausländischen Arbeiter“ und davon, dass Chaos, „Plünderungen und Vergewaltigungen … an der Tagesordnung waren“. Für eine solche Behauptung gibt es in Kassel jedoch keine ernsthaften Belege. Eine solche Aussage dokumentiert eher die damalige Verunsicherung und es zeigt, wie wenig Bewusstsein von der eigenen Verantwortung für das Geschehene vorhanden war.

Vor 75 Jahren – wir vergessen nicht!

30. März 2020

Deutsch-italienisches Gedenken in Zeiten von Corona

Da in den heutigen Zeiten öffentliches Gedenken nicht möglich ist, müssen virtuelle oder symbolische Formen des Erinnerns eingesetzt werden. Zu diesem Zweck haben Kasseler Mitglieder der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) Anfang der Woche an der Tafel für die am Bahnhof Wilhelmshöhe ermordeten italienischen Zwangsarbeiter eine Gedenkaktion organisiert.

Am 31. April 1945 hatte die Gestapo dort 78 Zwangsarbeiter wegen angeblicher Plünderung ermordet. Auf dem Bahnhof stand ein beschädigter Wehrmachtszug mit Lebensmitteln und anderen Gegenständen. Die einzelnen Waggons dieses Zuges waren bereits von deutschen Zivilisten erbrochen und geplündert worden. Italienische Militärinternierte, die auf einem Nebengleis in einem Bau-Zug untergebracht waren, hatten sich ebenfalls bedient. Als man in ihrer Unterkunft diese Lebensmittel fand, wurden die Italiener und ein sowjetischer Zwangsarbeiter auf Anordnung des Chefs der Kasseler Gestapo Franz Marmon an den Rand eines Bombentrichters geführt und von hinten erschossen. Wenige Tage später befreiten amerikanische Truppen Kassel.

Silvia Gingold, Tochter von Peter Gingold, der 1945 bei der Resistenza kämpfte, und Dr. Ulrich Schneider, Generalsekretär der FIR, erinnern am Gedenkstein für die italienischen Zwangsarbeiter. Foto: Schimmelpfennig-Könen

Ausgestattet mit der Fahne der VVN, der FIR und einem Wimpel der italienischen Partisanenorganisation ANPI legten die VVN-Mitglieder Blumen nieder und dokumentierten diesen symbolischen Akt. Fotos dieser Aktion wurden zusammen mit einem kurzen Bericht auch an die italienischen Veteranenorganisationen geschickt und dort auf Webseiten und in der Presse veröffentlich. So gelang ein gemeinsames Gedenken – trotz Coronakrise.

Der Mord an italienischen Zwangsarbeitern am Bahnhof Kassel-Wilhelmshöhe

30. März 2020

Am Ostersamstag, dem 31. März 1945, ereignete sich wenige Stunden vor der Befreiung Kassels durch die Amerikaner unter der Verantwortung des Leiters der Sicherheitspolizei Franz Marmon ein letztes scheußliches Verbrechen an italienischen Zwangsarbeitern.

Die Zwangsarbeiter, die vor 75 Jahren am Bahnhof Wilhelmshöhe erschossen wurden, gehörten zu einem Bautrupp. Der sollte Schäden an den Gleisen der Naumburger Eisenbahn ausbessern. Nach einer Vielzahl von Bombenangriffen gab es mehr als genug zu tun. Auf einem der Bahngleise stand ein beschädigter Wehrmachtszug mit Lebensmitteln und anderen Gegenständen. Die einzelnen Waggons dieses Zuges waren bereits von deutschen Zivilisten, die Mangel litten hatten, aufgebrochen und geplündert worden. Italienische Militärinternierte, die in einem Bau-Zug untergebracht waren, der auf einem Nebengleis abgestellt war, hatten sich ebenfalls aus diesem Wehrmachtszug Gegenstände besorgt. Wie war das möglich?

Die deutschen Bewacher der Zwangsarbeiter hatten sich bereits abgesetzt. Die Italiener und ein Russe warteten daher vergeblich auf ihre Essensration. Da nun auf einem Nebengleis ein Güterzug mit Lebensmitteln stand, der von ebenfalls hungrigen Deutschen bereits aufgebrochen worden war, seien sie aufgefordert worden, sich doch auch etwas zu nehmen, der Krieg sei ja zu Ende, sagte ein überlebender Italiener später aus.

Wer den Vorfall meldete, ist nicht bekannt. Fest steht, dass der Leiter der Gestapo-Stelle am Panoramaweg, Franz Marmon, ein Kommando zum Bahnhof befohlen hat. Die Italiener wurden zunächst in dem Eisenbahnzug eingesperrt. Die Zwangsarbeiter und ihr Gepäck wurden nach Lebensmitteln durchsucht. Als man in dem Bau-Zug tatsächlich einzelne Gegenstände aus dem Wehrmachtszug fand, war das Todesurteil für die Zwangsarbeiter gesprochen.

Einige Zeit später wurden sie in Gruppen von sechs bis acht Mann aus dem Eisenbahnwagen auf das angrenzende Kleingartengelände geführt, das durch Bombentrichter aufgerissen war. Die Italiener und ein sowjetischer Zwangsarbeiter wurden jeweils an den Rand eines Bombentrichters geführt und von hinten erschossen. Nachdem 78 von ihnen auf diese Art ermordet worden waren, mussten die überlebenden Bauarbeiter die Bombentrichter mit den darin befindlichen Toten zuschaufeln

Fünf Wochen später ordneten die Amerikaner die Exhumierung der Leichen durch deutsche Kriegsgefangene an. Die meisten Leichen konnten identifiziert werden. Seit 1988 erinnert eine Gedenktafel an das Schicksal der Zwangsarbeiter.

Morde in den Fuldabergen

27. März 2020

Im Zuge der Auflösung des Arbeitserziehungslagers (AEL) Breitenau wurden am 29. März 1945 gegen 11 Uhr morgens 30 – 40 Schutzhaftgefangene unter Bewachung von einem Gestapo-Mann und 5-6 SS-Männern nach Kassel gebracht. Sie sollten dort, nach Aussage einer ehemaligen Gestapo-Mitarbeiterin, auf Befehl des Gestapostellenleiters Marmon, der in der Karwoche 1945 zum Kommandeur der Sicherheitspolizei ernannt worden war, auf einem Friedhof erschossen werden.

Da die Gestapo jedoch fürchtete, dass die amerikanischen Truppen zuerst Kassel erreichen würden, kehrte das Kommando mit den Gefangenen nachts nach Breitenau zurück. Da einigen Männern auf dem Weg die Flucht gelungen war, kehrten nur 33 Gefangene zurück, die im Flur des Zellenbaus eingeschlossen wurden.

Anschließend wurden von den verbliebenen Schutzhaftgefangenen, die am kommenden Tag evakuiert werden sollten, zehn ausgewählt, um am Fuldaberg das Massengrab auszuheben. Einer der am Massenmord beteiligten Gestapo-Männer sagte später aus: „Gegen Mitternacht (…) habe ich in Breitenau von Kriminal-Kommissar und SS-Hauptsturmführer Engels den Auftrag bekommen, zusammen mit Kriminalassistent N. und 5 bis 6 SS-Leuten die Grabung eines Loches durch Häftlinge vorzunehmen. Er wurde mir gesagt, dass es für Leichen von Plünderern, die erschossen werden sollten, dienen würde. Den Häftlingen sollten wir sagen, es sei zum Vergraben von Akten.“

Während die Gefangenen unter Bewachung von einigen SS-Männern bei dem Grab warten mussten, gingen die beiden Gestapoleute mit den anderen SS-Männern in das Lager Breitenau zurück. Dort erhielten sie von Engels den Befehl, gemeinsam mit dem SS-Sturmscharführer und Kriminalsekretär Peter Frischkorn die Erschießung durchzuführen. Die Gefangenen wurden nacheinander in drei Gruppen aus dem Zellenbau herausgeholt. Ein SS-Obersturmführer der Gestapo hatte eine Liste bei sich, aus der er jeweils 10 Gefangene aufrief. Anschließend wurden immer zwei Gefangene mit Stricken aneinander gefesselt und dann zum vorbereiteten Massengrab geführt. Drei Gefangene blieben von der Ermordung verschont. Nach Aussage des Nachtaufsehers habe der Gestapo-Mann sie in drei Einzelzellen gesperrt und daraufhin das Zellengebäude verlassen.

Die Gefangenen wurden vor den Augen derjenigen, die das Grab ausgehoben hatten, ermordet. Ein französischer Häftling berichtete: „Es wurde uns befohlen, 20 m zurückzugehen. Da sahen wir 10 Gefangene in Handschellen kommen, immer 2 zu 2 verbunden. Die SS befahl ihnen, am Rand der Grube niederzuknien mit dem Gesicht zur Erde. Dann töteten sie sie durch Genickschuss.

Jedes Mal mussten wir sie losbinden und sie nebeneinander in dieses schändliche Grab legen. (…) Die zweite Zehnergruppe kam heran, aber hier muss ich jetzt ausdrücklich betonen: ein Gefangener befreite sich, sprang in die bewaldete Schlucht, schwamm durch die Fulda, und wir hörten ihn am anderen Ufer wieder weiterlaufen. Niemand hatte reagiert, und so haben wir bloß 9 beerdigt. – Die letzte Zehnergruppe kam heran. Es spielte sich dasselbe ab. In der Aufregung und Verwirrung konnte ein weiterer Häftling fliehen.“

Anschließend mussten die Gefangenen unter Aufsicht von 4 Wachleuten die Grube wieder zuwerfen. Von diesen wurden sie gezwungen, einen Gefangenen, der noch nicht tot war und unentwegt schrie, mit Steinen zu erschlagen. „Wir sind gegen 5 Uhr morgens ins Lager zurückgekehrt, und wieder steckte man uns in Einzelhaft. Es ist unnötig, unsere seelische Verfassung zu beschreiben. Wir dachten immer an das, dessen Zeugen wir gewesen waren.“

Unter den 28 Ermordeten befanden sich 16 sowjetische, 10 französische und zwei niederländische Gefangene. Bisher konnten lediglich zehn Opfer namentlich ermittelt werden; die Franzosen Marcel Delacroix, Maurice Courault, Andre Lamic, Joseph Duquesney, Louis Nouaille und Legrand, sowie die aus der Sowjetunion stammenden Stanislaus Ivanow, Andre Ivanow, Siergiej Tarassjuk und der Ukrainer Valentin Domaschewski. Über die anderen Opfer gibt es lediglich einzelne Anhaltspunkte aus Gegenständen, die bei ihnen gefunden wurden, wie z.B. Kriegsgefangenenmarken. Bei einer späteren Exhumierung der Toten im Jahre 1960 ergab sich, dass die Toten zwischen 17 und 40 Jahre alt gewesen sind.

Der Mord auf dem Friedhof Wehlheiden

25. März 2020

Am Karfreitag 1945 ließ die Gestapo durch ein vierköpfiges Kommando 12 Häftlinge des Zuchthauses auf dem Friedhof Wehlheiden ermorden. Als die Täter nach dem Krieg verhört wurden, redeten sie sich heraus. Einer habe zwar „als Kommandant teilgenommen …, aber persönlich habe ich auf die Verurteilten nicht geschossen.“ Ein anderer erklärte, dass seine Pistole Ladehemmungen gehabt habe. Und auch ein dritter „will dabei nicht mitgeschossen, sondern sich bei den rasch ablaufenden Vorgängen mit Absicht zurückgehalten haben.“ Der vierte musste sich nicht mehr verteidigen. Er war bereits 1947 verstorben.

Was war nun tatsächlich passiert?

Im Zuchthaus Kassel-Wehlheiden unterhielt die Kasseler Gestapo während des Krieges eine eigene Abteilung. Sieben Zellen der Abteilung B4 standen ausschließlich der Gestapo zur Verfügung. Dort lieferte sie Gefangene ein, die teilweise noch verhört werden sollten oder die bereits zur Überstellung an eine andere Haftanstalt bzw. ein Konzentrationslager vorgesehen waren. Zwar war das Zuchthaus für die Verpflegung zuständig, so dass die jeweilige Belegungsstärke an die Verwaltung gemeldet werden musste, die Häftlinge wurden jedoch ohne richterlichen Haftbefehl und ohne Angabe der Personalien eingeliefert. Ende März 1945 befanden sich 74 Gestapohäftlinge in der Abteilung B4.

Als am Gründonnerstag, den 29.März 1945, der Räumungsbefehl für das Zuchthaus Wehlheiden kam und die Strafgefangenen per Zug nach Halle verlegt wurden, verblieben die Gestapohäftlinge in Kassel, da für sie kein Transportbefehl vorlag.

Da selbst „5 Minuten nach 12“ nichts ohne Befehl stattfinden durfte, wurde am nächsten Tag ein Wachmann in die Goetheanlage zum Kasseler Gestapochef Marmon geschickt, um zu erfragen, was mit den Gefangenen geschehen solle. Marmon teilte daraufhin die verbliebenen Häftlinge in zwei Gruppen ein: Die erste Gruppe von etwa 60 sollte aus Kassel herausgebracht werden. Eine zweite Gruppe von 12 Personen sollte ohne Prozess oder Urteil liquidiert werden. Er beauftragte den Kriminalsekretär Kurt Knigge, ein Exekutionskommando zusammenzustellen und die 12 Häftlinge zu erschießen. Knigge wählte daraufhin fünf weitere Beamte für dieses Kommando aus und machte sich mit ihnen auf den Weg.

Dass es selbst in dieser Situation noch möglich war, sich der Beteiligung an einer solchen Mordaktion zu entziehen, berichtet der Historiker Michael Jäger: „Zwei der Beamten erklärten, noch warten und später mit Fahrrädern nachkommen zu wollen. Stattdessen fuhren sie zum Hauptfriedhof und warteten dort zwei Stunden, bevor sie in die Goetheanlagen zurückkehrten. Sie vermieden so ihre Beteiligung an der Erschießung.“

Die anderen marschierten zum Zuchthaus und holten dort die Gruppe der 12 Häftlinge ab. Zu zweien aneinandergefesselt wurden sie durch den Grasweg zum Wehlheider Friedhof gebracht. Dort angekommen wurden sie unverzüglich von den Beamten mit Maschinenpistolen niedergeschossen. Ein Häftling versuchte angesichts des Todes noch zu fliehen, auch er wurde erschossen. Nachdem die Leichen verscharrt worden waren, kehrte das Kommando zurück und Knigge erstattete „Vollzugsmeldung“.

Wer waren die Opfer?

Im Nachhinein wurde von den Tätern behauptet, es habe sich bei der Gruppe der 12 um „Mörder“ und „Plünderer“ gehandelt. Soweit bis heute überhaupt etwas über die Identität der Opfer gesagt werden kann, sind diese Behauptungen falsch. Nur 8 der 12 Namen sind bekannt. Es handelt sich um die Ukrainer Alex Bouch und Krigo Schlachovsi, die Polen Henryk Kdazokowski und Ludwig Ziokowski, den Franzosen Pierre Bourgoise, den Italiener Battista Barrachetti und die beiden Deutschen Peter Steier und Wolfgang Schönfeld.

Das Schicksal von Wolfgang Schönfeld ist besonders tragisch. 1917 in Kassel geboren, erlebte er seit 1933 die gesellschaftliche Ausgrenzung aller jüdischen Bürger am eigenen Leib. 1943 wurde er wegen angeblicher „Rassenschande“ verhaftet und ins KZ Auschwitz deportiert. Im August 1944 gelang ihm die Flucht und er kehrte unerkannt nach Kassel zurück, wo er bis Ende Dezember versteckt lebte. Am 25. Dezember 1944 wurde er jedoch bei einer Kontrolle am Hauptbahnhof von der Polizei verhaftet, der Gestapo übergeben und im Zuchthaus Wehlheiden in der Abteilung B4 inhaftiert. Er, der KZ und Illegalität überlebt hatte, wurde nun – die Befreiung durch die vorrückenden Alliierten vor Augen – noch ermordet.

Das Ende einer Sprengstoff-Fabrik in Hessisch-Lichtenau

23. März 2020

Am 29.März 1945 hörte eine der größten Munitionsfabriken in Deutschland, die Sprengstoffwerke „Friedewald“ bei Hirschhagen, auf zu produzieren. In der Nähe von Kassel, in Hirschhagen bei Hessisch-Lichtenau, befand sich seit 1936/37 – gut getarnt, aber in der Region bekannt – eine der größten Sprengstoff-Produktionsstätten des deutschen Reiches. Auf 233 ha wurden fast 400 Werksgebäude, 2 Kraftwerke, 17km Gleisanlagen und ein weitverzweigtes Straßennetz errichtet.

In der Region selber gab es für ein solches Werk nicht genügend Arbeitskräfte. Daher wurden um Hirschhagen herum 10 Lager bzw. Siedlungen zur Unterbringung neuer Arbeitskräfte geschaffen. Neben den Deutschen, unter ihnen sehr viele dienstverpflichtete Frauen, waren in Hirschhagen Menschen aus 11 europäischen Ländern eingesetzt. Zwangsarbeiter aus Frankreich, Belgien, Holland, Polen, Bulgarien, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion wurden rekrutiert. Als letztes Arbeitsaufgebot wurden am 2.August 1944 1000 ungarische Jüdinnen, die im KZ Auschwitz als arbeitsfähig selektiert waren, nach Hirschhagen gebracht und dort als Frauen-Außenkommando des KZ Buchenwald geführt.

So erreichte die Zahl der Arbeitskräfte in Hirschhagen zeitweilig fast 7500 Personen. Sie arbeiteten im Baubereich (Ausbau und Wiederherstellung der Produktionsanlagen) und in der unmittelbaren Sprengstoffproduktion bzw. -abfüllung. Hergestellt und verfüllt wurden TNT als Sprengstoff in Bomben, Granaten und Tellerminen, Pikrinsäure als Treibmittel für Geschosse und Nitropenta.

Diese Produktion war sehr gesundheitsschädlich. Während den Deutschen Schutzkleidung zur Verfügung gestellt wurde, waren Ostarbeiter und die KZ-Häftlinge meist schutzlos den Giftstoffen ausgeliefert. Blanka Pudler, eine ungarischen Jüdinnen berichtet: Ich „musste den in die Granaten zu füllenden Sprengstoff mit Messingstäbchen sorgfältig rühren, damit eine gleichmäßige Abkühlung erfolgt … Ich habe den bitterlich schmeckenden, ungesunden Dampf einatmen müssen, das hat mich betäubt, und ich bin oft dann zur Besinnung gekommen, als mir der heiße Sprengstoff ins Gesicht spritzte, dadurch wurde mein Gesicht mit Brennwunden voll.“

Auch die Haare nahmen die Chemikalien auf. Eine ältere Helsaerin erinnerte sich auf einer Veranstaltung an die Frauen, die man wegen ihrer gelben Haare „Kanarienvögel“ genannt habe. Morgens und abends, wenn sie nach der 10-12 Stunden Arbeitsschicht in ihre Unterkunft „Vereinshaus“ marschierten, seien sie durch ihr Dorf gekommen.

Doch es gab auch kleine „Lichtblicke“. Blanka Pudler erinnert sich an eine „sehr sympathische deutsche Dienstverpflichtete“: „Sie fühlte für mich großes Mitleid, tröstete mich und half mir, wo sie konnte. Manchmal gab sie mir sogar etwas zum Essen, obwohl ich weiß, dass sie auch nicht viel zum `Beißen‘ hatte.“

Die Produktion selber war ebenfalls sehr gefährlich. Allein durch Unfälle und Explosionen in der Fabrik haben mindestens 185 Menschen ihr Leben verloren. Bei der schwersten Explosion am 31.3.44 wurden 16 Deutsche und 55 ausländische Arbeiter getötet.

Bis zum letzten Augenblick, bis zum Heranrücken der amerikanischen Truppen Anfang April 1945, wurde die Produktion als „kriegsentscheidend“ aufrechterhalten. Eine Abrechnung der „Verwertchemie Hessisch-Lichtenau“ (IG Farben-Tochter) mit der SS belegt, dass die ungarischen Jüdinnen noch vom 1. bis 22.März 1945 152.768 Arbeitsstunden leisteten, für die die SS 55.552 RM kassierte. Die Frauen bekamen selbstverständlich nichts.

Am 29.März wurde das KZ-Außenkommandos aufgelöst und nach Leipzig transportiert und von dort auf „Todesmarsch“ geschickt. Die Frauen, die diesen Marsch überstanden, erlebten erst am 25.April die Befreiung.

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