Solidarität mit Janine Wissler

11. Juli 2020

Nachfolgenden Appell hat die Friedens- und Zukunftswerkstatt e.V., Frankfurt/M. veröffentlicht. Die VVN-BdA Kreisvereinigung unterstützt diese Solidaritätsaktion:

Die anonymen Morddrohungen gegen Janine Wissler, der Fraktionsvorsitzenden der LINKEN im Hessischen Landtag, macht uns betroffen. Dieser erneute Angriff auf eine gegen rassistische Politik und für Demokratie und Frieden engagierte Persönlichkeit ist ein weiteres Beispiel dafür, dass der Rechtsextremismus in unserem Land wächst.

Zunehmend wird erkennbar, dass es sich nicht um verwirrte Einzeltäter handelt, sondern diese Kräfte in der Gesellschaft und auch in den öffentlichen Ämtern verwurzelt sind.

Deshalb kann es nicht nur darum gehen, Einzeltäter ausfindig zu machen. Für uns heißt Solidarität mit Janine Wissler, die Nazistrukturen endgültig zu überwinden. Dazu rufen wir alle Verantwortlichen wie auch unsere Mitbürgerinnen und Mitbürger auf.

Eindrucksvoller Gedenkgottesdienst für Dr. Walter Lübcke

5. Juni 2020

,

Auf Initiative des Kasseler „Bündnis gegen Rechts“, an dem die VVN-BdA aktiv beteiligt ist, fand am Donnerstagabend aus Anlass des 1. Jahrestages der Ermordung des damaligen Kasseler Regierungspräsidenten Dr. Walter Lübcke in der Elisabethkirche ein ökumenischer Gedenkgottesdienst statt. 80 Personen waren zugelassen mindestens der gleichen Anzahl musste aus Platzproblemen abgesagt werden. Anwesend waren die Familie Lübcke, Abgeordnete des hessischen Landtages aus der Fraktion LINKE, Mitglieder des Stadtparlaments, aber auch der Betriebsratsvorsitzende von VW, Gewerkschaftsvertreter und engagierte Antifaschisten. Die Gedenkpredigt hielt Dekan Dr. Gernot Gerlach, der mit klaren Worten die Situation ein Jahr nach dem dramatischen Ereignis beschrieb und in die Bedrohung durch neofaschistische Netzwerke („ein brauner Sumpf tut sich vor uns auf“) einordnete. Er erinnerte auch an die 200 Tote rassistischer und neofaschistischer Gewalt in den vergangenen 30 Jahren. Er forderte, im Sinne von Dr. Walter Lübcke einzutreten für die Würde eines jeden Menschen, und das gelte selbstverständlich auch für Flüchtlinge.

In Erinnerung an Dietrich Bonhoeffer, der seine Standhaftigkeit gegenüber dem NS-Regime noch im April 1945 mit dem Leben bezahlte, forderte Dekan Gerlach den Mut zur Wahrheit, auch für die Politiker im kommenden Untersuchungsausschuss, die die Rolle des hessischen VS in diesem Zusammenhang aufarbeiten wollen, und das Gericht, das ab Mitte Juni den Prozess gegen die Lübcke-Mörder eröffnen wird.

Im Anschluss legten zahlreiche Besucher vor dem Gebäude des Regierungspräsidenten weiße Nelken zum Gedenken nieder.

Neofaschistische Netzwerke in Nordhessen

3. Juni 2020

„… wenn wir das gewusst hätten!“ – der Mord an Dr. Walter Lübcke und neofaschistische Strukturen in Nordhessen

Normalerweise wird der Satz gerne von politisch Verantwortlichen zitiert, wenn sie Fehler entschuldigen wollen. Bezogen auf die extreme Rechte in Nordhessen, die mit dem Mord an Halit Yozgat 2060 und dem Lübcke-Mord 2019 ihre blutige Spur zog, kann eine solche „Entschuldigung“ jedoch nicht akzeptiert werden.

Eine Redaktionsgruppe aus Nordhessen hat im Auftrag der hessischen Landtagsfraktion der LINKEN unter dem genannten Titel in einer Broschüre alles das aufgelistet, was aus allgemein zugänglichen Quellen bis heute über diese neofaschistischen Verbrechen und die Täter sowie ihre aktuellen Netzwerke bekannt ist.

Der Schwerpunkt liegt in der Broschüre auf dem Lübcke-Mord und Stephan Ernst, aber auch die neofaschistischen Parteien, ideologische Netzwerke und „freie Strukturen“ sind hier zu finden. Und warum Thorsten Heise, die AfD und Björn Höcke dabei nicht außen vor bleiben können, zeigt die Broschüre anschaulich.

Eine notwendige Ergänzung: Diese Informationen wurden von der Redaktionsgruppe in einem gut einstündigen Pressegespräch Ende Mai auch der Lokalredaktion der HNA vorgestellt – Berichterstattung? Keine! Offenbar gab es in der HNA – Redaktion die klare Anweisung, dass zum Jahrestag der Erinnerung an den neofaschistischen Mord antifaschistische Stimmen in der Zeitung nicht zu Wort kommen sollten.

Wer sich für diese Broschüre interessiert, kann sie kostenfrei im Wahlkreisbüro der LINKEN in Kassel, Schillerstraße erhalten.

 

Gedenken zum 8. Mai 1945 – 2020

8. Mai 2020

Am  8. Mai 2020 nahmen auf dem Opernplatz in Kassel etwa 100 Menschen an einer Kundgebung der DGB Region Nordhessen, des Kasseler Friedensforums und der VVN-BdA Kreisvereinigung Kassel zum Tag der Befreiung teil. Es waren weit mehr als erwartet. Zu ihnen sprachen Jenny Huschke, als Regionsgeschäftsführerin des DGB, Frank Skischus für das Friedensforum und Ulrich Schneider für die VVN-BdA. In einer zweiten Kundgebung im Ehrenmal für die Opfer des Faschismus im Fürstengarten berichtete Jochen Boczkowski als Zeitzeuge über seine Erfahrungen der letzten Kriegsjahre in Kassel und wie er zum Antifaschisten wurde. Silvia Gingold zitiere aus den Erinnerungen ihres Vater Peter Gingold zum 8. Mai 1945 in Turin. Unter den Klängen von „Bella Ciao“ legten die Teilnehmenden Blumen am Ehrenmal nieder. 

Nachfolgend die Ansprache von Ulrich Schneider:

Wir erinnern in diesem Jahr an den 75. Jahrestag der Befreiung von Faschismus und Krieg.

Die Erinnerung an dieses Datum ist ein wichtiger Teil unserer politischen Kultur. Die meisten von uns werden sich noch daran erinnern, dass es 40 Jahre gedauert hat, bis ein deutscher Bundespräsident, nämlich Richard von Weizsäcker zum ersten Mal diese Begrifflichkeit benutzt hatte. Bis dahin sprach man von Niederlage, Kapitulation oder Katastrophe – aber nicht davon, dass auch die deutsche Bevölkerung vom Faschismus befreit wurde, selbst diejenigen, die noch bis 5 Minuten nach 12 „in Treue fest“ mit dem Regime verbunden waren.

In Kassel hatte diese Befreiung durch die alliierten Streitkräfte bereits einige Wochen vorher stattgefunden. Es waren die Ostertage 1945, als amerikanische Einheiten das Kasseler Becken erreichten und nach wenigen Tagen den letzten Widerstand von Wehrmacht, Volkssturm und SS – Verbänden zerschlugen.

Am 4. April 1945 kapitulierten die letzten Wehrmachtseinheiten, nachdem sie noch mehrere Tage – also bis 5 Minuten nach 12 – unsinnigen Widerstand geleistet hatten und damit den Tod weiterer Menschen zu verantworten hatten.

Sie hatten mit diesem militärischen Widerstand auch zu verantworten, dass in den letzten Stunden vor der Befreiung der Stadt die Gestapo und SS noch drei Verbrechen begehen konnten. Sie ermordeten am Karfreitag 1945 zwölf Häftlinge des Zuchthaus Wehlheiden, darunter Wolfgang Schönfeld, der 1944 als Deserteur verhaftet worden war, ohne irgendein Urteil auf dem Wehlheider Friedhof.

Sie ermordeten am Ostersamstag 78 italienische Zwangsarbeiter und einen sowjetischen Häftling angeblich wegen Plünderung – sie hatten sich aus einem aufgebrochenen Wehrmachtstransport auf dem Bahnhof Wilhelmshöhe Lebensmittel genommen. Sie wurden ebenfalls standrechtlich erschossen. Verantwortlich war in beiden Fällen der Leiter der Kasseler Gestapo Franz Marmon. Auf seinen Befehl hin wurden ebenfalls am Ostersamstag 28 Häftlinge des Arbeitserziehungslagers Breitenau, darunter 16 sowjetische, 10 französische und 2 niederländische Gefangene von SS-Leuten in den Fuldabergen bei Guxhagen ermordet.

Es scheint mir heute wieder nötig zu sein, an diese Verbrechen zu erinnern, um die Perspektive, die mancher Zeitgenosse mit dem Kriegsende verbindet, die „Deutschen seien doch auch Opfer gewesen“, zurückzuweisen.

Aber selbst für Mitläufer und Mittäter des NS-Regimes waren der 4. April in Kassel und der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung. Eröffnete er ihnen doch die Möglichkeit aus dem faschistischen System und den Fesseln der „Volksgemeinschaftsideologie“ auszubrechen und nun einen neuen Weg zum Aufbau einer demokratischen und friedlichen Gesellschaft mitzugehen.

Und anders als Alexander Gauland von der AfD, der vor wenigen Tagen beklagte, der 8. Mai 1945 sein „ein Tag der absoluten Niederlage, ein Tag des Verlustes von großen Teilen Deutschlands und des Verlustes von Gestaltungsmöglichkeit“ für das Deutsche Reich gewesen, haben die Antifaschisten auch in unserer Stadt die Befreiung als Chance begriffen, eine neue Gesellschaft zu gestalten.

Trotz Ausgeh- und Versammlungsverbot kamen schon in den ersten Tagen und Wochen nach der Befreiung Kasseler Nazigegner zusammen, um zu überlegen, wie ein politischer Neuanfang aussehen soll. Ehemalige Mitglieder der SPD, unter ihnen Rudolf Freidhof, Georg Häring und Hans Nitsche trafen sich zum ersten Mal Mitte April in der Privatwohnung von Karl Hermann in der Frankfurter Str.7 und später in den Räumlichkeiten des Rathauses. Unter aktiver Beteiligung von Kommunisten entstanden in den stillgelegten Betrieben und einigen Stadtteilen die ersten „antifaschistischen Komitees“. Darüber hinaus fanden sich Einwohner verschiedener politischer Richtungen in „Aufräumungsausschüssen“ zusammen.

Den ersten organisationspolitischen Neuanfang versuchten ehemalige Gewerkschafter, wie Karl Eckerlin, Theo Hüpeden und Paul Pfetzing. Nach einigen Vorgesprächen fand am 25. April 1945 im Rathaus im Rathaus eine erste Zusammenkunft mit etwa 80 Personen statt. Doch es konnten keine Beschlüsse gefasst werden. Die Versammlung wurde nach kurzer Zeit vom amerikanischen Geheimdienst C.I.C. (Counter Intelligence Corps) aufgelöst. Solche Aktivitäten waren den Besatzungsoffizieren zum damaligen Zeitpunkt suspekt.

Doch damit gaben sich die Initiatoren nicht zufrieden. Karl Kuba, Paul Pfetzing und andere trugen „noch in derselben Woche der amerikanischen Militärregierung für den Stadt- und Landkreis Kassel den auf Wiedererrichtung der freien Gewerkschaft gerichteten Wunsch der Kasseler Arbeiterschaft“ vor, heißt es in einem Schreiben vom 6.Juni 1945. Eine Entscheidung darüber wurde jedoch seitens der Amerikaner „von Woche zu Woche zurückgestellt“.

Wenn wir also an den 75. Jahrestag der Befreiung von Faschismus und Krieg erinnern, dann auch an diejenigen Frauen und Männer, die sich für den antifaschistisch-demokratischen Neubeginn in unserer Stadt eingesetzt haben. Und sie haben einiges von ihren Zielen versucht umzusetzen.

Die politische Losung „Nie wieder Krieg!“ haben beispielsweise die Arbeiter in Kassel konkret übersetzt mit „Nie wieder ‚Tiger-Stadt‘!“. Und als im Deutschen Bundestag über die Remilitarisierung diskutiert wurde, kam es in Kassel zum ersten politischen Streik, als die Arbeiter von Henschel und anderen Unternehmen spontan auf die Straße gingen und gegen die Wiederaufrüstung protestierten. Wir alle wissen, dass dieser politische Widerstand nicht von Erfolg gekrönt war.

Umso dringender ist es für mich, in Erinnerung an den 75. Jahrestag der Befreiung der Stadt und der damaligen Verpflichtung „Nie wieder Krieg!“ heute für ein Ende der Kriegsproduktion in unserer Stadt und für Rüstungskonversion einzutreten. Natürlich wusste man damals und wissen wir heute, dass mit Rüstung enorme Profite gemacht werden. Aber damals war es auch im allgemeinen Bewusstsein, dass solche Profite Blutgeld sind – bezahlt mit dem millionenfachen Tod der Zivilbevölkerung, mit den Opfern auch in dieser Stadt.

Und wir sollten auch die zweite Losung des 8. Mai 1945 nicht vergessen: „Nie wieder Faschismus!“ Natürlich wissen wir, dass ein faschistisches Regime nicht vor der Tür steht, aber wenn wir heute an den 75. Jahrestag der Befreiung erinnern, müssen wir auch daran erinnern, dass vor 14 Jahren der neofaschistische Mordterror des Netzwerkes des NSU in Kassel zugeschlagen hat. Halit Yozgat wurde am 6. April 2006 in Kassel ermordet. Und es ist nicht einmal ein Jahr her, da wurde Anfang Juni 2019 der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke von dem Neofaschisten Stefan Ernst und seinem Komplizen brutal ermordet. Das sind nur zwei blutige Beispiele, die unsere Losung bestätigen „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen“.

Und in diesem Sinne ist und bleibt für uns der 8. Mai der Tag der Befreiung, aber auch ein Tag der Mahnung und der Selbstverpflichtung, das Vermächtnis der Überlebenden politisch fortzusetzen. Und damit das nicht allein in diesem Jahr so ist, sondern auch in den kommenden Jahren, hat die VVN-BdA – initiiert durch einen offenen Brief der Auschwitz Überlebenden Esther Bejarano an Bundespräsident Steinmeier – eine Petition auf den Weg gebracht, den 8. Mai bundesweit zum Feiertag zu erklären. Ich kann euch die erfreuliche Nachricht überbringen, dass diese Petition ein voller Erfolg ist. Gestern wurden den Vertretern des Deutschen Bundestages bereits 95.000 Unterstützernamen übergeben und von Abgeordneten der SPD, der Grünen, der FDP und der LINKEN übernommen. Sie versprachen, sich auch in diesem Parlament für dieses Anliegen einzusetzen.

Heute Vormittag wurde die Zahl von 100.000 Unterstützern überschritten und es kommen stündlich weitere dazu.

Herzlichen Dank für diese großartige Unterstützung.

Wir erinnern an den 8. Mai 1945 – 75 Jahre Befreiung von Faschismus und Krieg

5. Mai 2020

Auch wenn es die Corona-Bedingungen äußerst erschweren, wollen wir den 8. Mai – den Tag der Befreiung von Faschismus und Krieg – auch in Kassel öffentlich begehen. Schon zweimal haben wir mit symbolischen Kleinaktionen die Erinnerung wachgehalten (Gedenken am Mahnmal für die ermordeten italienischen Zwangsarbeiter und Erinnerung an das Außenlager Kassel-Druseltal von Buchenwald), nun wollen wir wieder in der Innenstadt sichtbar sein.

Am Freitag, den 8. Mai 2020, von 16:00 h bis 17:00 h findet eine Kundgebung auf dem Opernplatz in Kassel statt.

Die Veranstaltung führen wir gemeinsam mit dem DGB Region Nordhessen und dem Kasseler Friedensforum durch. Wir zeigen Transparente und Fahnen. Gleichzeitig haben wir den Einsatz eines Lautsprechers beantragt, sodass die Ansprachen auch für Passanten gut zu hören ist.
Kurz vor 17:00 h werden wir diese Kundgebung beenden. Alle Teilnehmenden begeben sich individuell – unter Einhaltung der Abstandsregelungen – zum Ehrenmal für die Opfer des Faschismus am Fürstengarten. Dort beginnt ab 17:15 h eine zweite Gedenkkundgebung mit Kurzansprache und dem gemeinsamen Blumenniederlegen.

Wichtiger Hinweis: Alle Teilnehmenden werden aufgefordert, im Sine der Corona-Maßnahmen Abstand zu halten und einen Mund-Nasen-Schutz zu tragen.

Damit wir wissen, mit wie vielen Teilnehmenden wir ungefähr rechnen können, möchten wir um eine kurze Rückmeldung per E-Mail an kassel@vvn-bda.de bitten.

Neuanfang und Hilfe für die Verfolgten des Naziregimes

17. April 2020

Die Wiederherstellung der alltäglichen Lebensgrundlagen in der Stadt (Strom, Gas, Wasser, Versorgung) war durch die Kriegsfolgen nicht einfach und führte zu manchen Einschränkungen bei der Kasseler Bevölkerung. Wer sich hierüber beschweren wollte, musste aber auch darüber nachdenken, wer diesen Krieg unterstützt hatte – und das war nicht allein Hitler.

Es gab in dieser Zeit nur eine Gruppe von Deutschen, die offiziell von den Alliierten bevorzugt wurden. Das waren die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung, die aus den KZs und Haftanstalten befreit zurückkehrten.

Für sie wurde auf Anordnung der Amerikaner im Rathaus, im Zimmer 112, eine Betreuungsstelle für entlassene politische Häftlinge eingerichtet. Der Leiter dieser Einrichtung, die unmittelbar dem Oberbürgermeister unter-stand, war Erwin Cohn, ein ehemaliger Verfolgter. Diese Betreuungsstelle „hilft mit Rat, Geld, Fahrtausweisen. Sie weist in Privatquartiere ein und verschafft, wenn möglich einen Platz im Erholungsheim. Sie versucht Arbeitsstellen zu vermitteln“, heißt es in einem großen Bericht der “Hessischen Post“ vom 30. Juni 1945. Dabei war diese Betreuungsstelle nicht allein für Kasseler, sondern für politische Häftlinge jeder Nationalität zuständig.

Längerfristige Unterstützung konnte jedoch nur rückkehrenden Kasseler Verfolgten gewährt werden. Manchen von ihnen wurde es ermöglicht, einige Zeit im Gnadenweg 7, im “Kameradschafts- und Erholungsheim der Stadt Kassel“, unterzukommen. „Hier erhalten sie vier Mahlzeiten am Tag und leben unter gesundheitlich zufriedenstellenden Verhältnissen. Ein Mann nahm hier in vier Wochen 14 Pfund zu. Die einzige Beschwerde besteht darin, dass sie keine Rauchwaren erhalten“, berichtete die “Hessische Post“. Angesichts der erlittenen körperlichen und seelischen Qualen war dies nur angemessen. Der Verwaltungsbericht der Stadt Kassel berichtet, dass vom 28. Mai 1945 bis Juni 1946 90 ehemalige KZ-Häftlinge mit zusammen 2300 Verpflegungstagen in diesem Haus untergebracht waren.

Doch damit waren die Probleme der zurückkehrenden Kasseler Häftlinge nicht gelöst, wie Hans Spill berichtet. Spill selbst war 1935 wegen “Vorbereitung zum Hochverrat“ ins Zuchthaus Wehlheiden gekommen und 1941 im KZ Sachsenhausen und danach Mauthausen inhaftiert worden. Ende Mai 1945 kehrte er nach Kassel zurück.

Er erzählt: „Also es fehlte alles. Meine Aufgabe war es zu organisieren, und das tat ich dann auch. Es war zwar eine Betreuungsstelle für politische Häftlinge im Rathaus eingerichtet, aber auch sie waren nicht in der Lage, alle Bedürfnisse zu erfüllen. Es hieß nun Eigeninitiative zu entwickeln.“

So besorgte er sich aus einem ehemaligen Arbeitsdienstlager in Harleshausen ein paar Schlafdecken. Aus dem Keller des Aschrottheims, das von den Amerikanern requiriert worden war, erhielt er nach einigem hin und her ein Federbett. Er hatte zwar Bezugsscheine, z.B. für einen Kochtopf, aber auch den bekam er nur durch Organisieren. Als ehemaligen Verfolgten wurde ihm zwar recht schnell Wohnraum zugewiesen, aber die dazugehörigen Möbel fehlten. Wie er dieses Problem lösen konnte, berichtet Hans Spill: „Viele führenden Nationalsozialisten waren in letzter Minute noch abgehauen und hatten ihr Mobiliar in ihren Wohnungen stehen gelassen. In der Gerstäckerstraße wohnte ein ehemaliger Arbeitsdienstführer. Er und seine Familie waren nach Bayern geflüchtet und hatten alles zurückgelassen. Mit Hilfe der Polizei des 1. Reviers durften wir uns benötigte Möbel- und Hausratstücke holen.“

Doch während der Leiter der Kasseler Betreuungsstelle von einer “heiligen Verpflichtung gegenüber diesen Menschen, die so viele Jahre tapfer durchgehalten und fast Übermenschliches erduldet“ hatten, sprach, sahen manche Mitbürger in Kassel das anders. Sehr bald kursierten Gerüchte über das “Wohlleben der KZler“ und Beschwerden über deren “Privilegierung“ in der Stadt. Schon wenige Wochen nach dem Ende hatte manch einer verdrängt, wie der Naziterror auch gegen Gegner in der eigenen Bevölkerung vorgegangen war, und wer tatsächlich versucht hatte, ungeachtet der Bedrohung für Freiheit und Leben, Widerstand zu leisten.

Daher wurde es den ehemaligen KZ-Häftlinge schnell klar, dass soziale Betreuungsarbeit und politische Arbeit zusammengehören, wie Ullrich Reinbach berichtete:

„In Kassel wollen wir nicht lediglich eine Betreuungsstelle haben, die zunächst einmal nichts weiter macht, als für die materiellen Dinge der Opfer des Faschismus zu sorgen, sondern wir wollen wirklich einen aktiven Block auf überparteilicher Grundlage schaffen, einen Bund, der sich für die neuaufzubauende Demokratie einsetzt.“

Und so entstand in Kassel im Herbst 1945 der “Bund ehemaliger politischer Gefangener“ mit August Cohn, Karl Eckerlin, Max Mayr, Ullrich Reinbach, Fritz Schmidt, Hans Spill und vielen anderen, aus dem 1946 die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) hervorging.

 

Wir vergessen nicht! Virtuelles Buchenwald-Gedenken 2020

10. April 2020

In diesem Jahr begehen wir am 11. April den 75. Jahrestag der Selbstbefreiung der Häftlinge des KZ Buchenwald. Mit der bewaffneten Aktion des Internationalen Lagerkomitees gelang es 21.000 Häftlinge des Lagers, unter ihnen über 900 Kinder und Jugendliche, vor ihrer Vernichtung durch die SS oder Todesmärschen zu retten.

Im Ergebnis dieser Selbstbefreiung traten die überlebenden Häftlinge am 19. April 1945 selbstbewusst zu ihrem Freiheitsappell an und formulierten in ihren jeweiligen Sprachen den „Schwur von Buchenwald“. Darin schworen sie: „Wir stellen den Kampf erst ein, wenn auch der letzte Schuldige vor den Richtern der Völker steht! Die Vernichtung des Nazismus mit seinen Wurzeln ist unsere Losung. Der Aufbau einer neuen Welt des Friedens und der Freiheit ist unser Ziel.
Das sind wir unseren gemordeten Kameraden, ihren Angehörigen schuldig.“
Dieser Schwur ist das politische Vermächtnis von Antifaschisten in aller Welt bis heute.

Bekanntlich sind in diesem Jahr jedoch sämtliche Veranstaltungen zum Gedenken an dieses historische Ereignis, insbesondere die große Kundgebung des Internationalen Komitees Buchenwald-Dora und Kommandos (IKBD) Anfang April 2020 auf dem Ettersberg aufgrund der Corona-Krise abgesagt worden.

So entstand der Vorschlag eines „virtuellen Buchenwald-Gedenkens 2020“, um die Erinnerung lebendig zu halten. Mitglieder der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN-BdA) begaben sich mit Transparenten zum Buchenwald-Schwur, mit Blumen und Fahnen an die historische Orte oder Erinnerungstafeln (z.B. zu Todesmärschen) und dokumentierten ihr Gedenken. In Kassel wurde an das KZ Außenkommando im Druseltal 85 erinnert und am Einsatzort der Häftlinge bei der SS-Bauleitung Drei Eichen.

Demokratisch durch die Pandemie ! Erklärung der VVN-BdA zu Corona und den Folgen

8. April 2020

Die Corona-Pandemie stellt die Welt plötzlich vor tödliche Gefahren. Das Virus interessiert sich dabei nicht für Politik. Politisch sind allerdings die Reaktionen der Regierungen und Parteien.
Zahlreiche Einschränkungen der bürgerlichen Freiheiten wurden innerhalb kurzer Zeit weltweit eingeführt. Diese Maßnahmen sind objektiv notwendig, um ein Massensterben zu verhindern. Gleichzeitig wird erkennbar, dass in dieser Krise in vielen Ländern bereits zuvor erkennbare autoritäre und restriktive Entwicklungstendenzen verstärkt und beschleunigt werden.
Innerhalb der EU gilt dies insbesondere für die Regierung Ungarns, die die parlamentarische Arbeit auf unbestimmte Zeit hat aussetzen lassen.
Auch in Deutschland gibt es von Seiten der Bundes- und Landesregierungen problematische Äußerungen, Erwägungen, Gesetzesvorhaben und teilweise auch Maßnahmen.
Begleitet werden diese Tendenzen ebenfalls in vielen Ländern durch extrem rechte, xenophobe, rassistische und insbesondere antisemitische Verschwörungstheorien, die sich auf Ursprung, Verbreitung und Folgen der Corona-Pandemie beziehen.

In dieser Situation fordert die VVN-BdA folgendes:

• Begriffe wie „Ausgangssperre“, „Ausnahmezustand“ und „Krieg“ haben in der Krisenbewältigung nichts zu suchen. Sie machen unnötig Angst und suggerieren militärische Lösungen für medizinische und gesellschaftliche Probleme.

• Alle Verordnungen und Maßnahmen müssen konkret begründet, zeitlich befristet, auch durch unabhängige Experten bewertet und ausgewertet werden und auf das notwendige Maß beschränkt sein. Dies gilt jeweils auch für zeitliche Verlängerungen.

• Verordnungen und Maßnahmen müssen Gegenstand parlamentarischer Kontrolle sein.

• Gesetzgeberische Prozesse, insbesondere die sich auf Krisenbewältigung beziehen, sind auf die Zeit nach der Pandemie zu verschieben. Gute Gesetze brauchen Zeit zur Reflexion.

• Notwendige Kontaktbeschränkungen im öffentlichen Raum sind mit Augenmaß durchzusetzen. Spaziergänger sind keine Verbrecher.

• Politische Aktivitäten im öffentlichen Raum, die die notwendigen Einschränkungen beachtet, müssen selbstverständlich möglich sein.

• Besonders gefährdet sind Obdachlose und Geflüchtete. Sie bedürfen einer besonders guten Fürsorge, nicht martialischer Abschottung. Es müssen Maßnahmen für eine angemessene Unterbringung ergriffen werden, z. B. in Hotels.

• Die gefährlichen Lagern an der EU-Außengrenze und in Griechenland müssen aufgelöst und die Geflüchteten evakuiert und dezentral untergebracht und versorgt werden.

• Deutschland muss endlich die Kinder und Jugendlichen, zu deren Aufnahme sich „Solidarische Städte“ bereiterklärt haben, aufnehmen.

• Das Militär kann Transport- und Hilfsdienste leisten, aber nicht Ordnungsmacht im Inneren sein. Die Trennung von Polizei und Militär ist unabdingbar. Bundeswehrsanitätskräfte sind der zivilen Leitung zu unterstellen.

• Die EU muss den Missbrauch der Pandemie zur Festschreibung strukturell antidemokratischer Ziele in ihren Mitgliedsstaaten unterbinden.

• Verschwörungstheoretische Erklärungsmuster, auch wenn sie vorgeben „für das Volk“ zu sprechen, sind zurückzuweisen. Die Krise nutzen wollende faschistische Gruppen sind aufzulösen.

• Nach Abschluss der Pandemie bedarf es einer breiten gesellschaftlichen Auswertung: Welche Maßnahmen haben sich im Nachhinein als richtig erwiesen, auf welche könnte in einem ähnlichen Fall verzichtet werden?

Cornelia Kerth, Axel Holz

Kassels Antifaschisten organisieren sich neu

7. April 2020

Noch war der Krieg in Deutschland nicht zu Ende, dennoch begannen Antifaschisten auch in Kassel mit den Überlegungen für einen demokratischen Neuanfang. Trotz Ausgeh- und Versammlungsverbot kamen schon in den ersten Tagen und Wochen nach der Befreiung Kasseler Nazigegner zusammen, um zu überlegen, wie ein politischer Neuanfang aussehen soll.

Ehemalige Mitglieder der SPD, unter ihnen Rudolf Freidhof, Georg Häring und Hans Nitsche trafen sich zum ersten Mal Mitte April in der Privatwohnung von Karl Hermann in der Frankfurter Str.7 und später in den Räumlichkeiten des Rathauses.

Unter aktiver Beteiligung von Kommunisten entstanden in den stillgelegten Betrieben und einigen Stadtteilen die ersten „antifaschistischen Komitees“. Darüber hinaus fanden sich Einwohner verschiedener politischer Richtungen in „Aufräumungsausschüssen“ zusammen.

Den ersten organisationspolitischen Neuanfang versuchten ehemalige Gewerkschafter, wie Karl Eckerlin, Theo Hüpeden und Paul Pfetzing. Nach einigen Vorgesprächen fand am 25. April 1945 im Rathaus die erste größere Zusammenkunft statt. Nach Informationen von Max Wolff sollen an dieser Versammlung etwa 80 Personen teilgenommen haben. Doch es konnten keine Beschlüsse gefasst werden. Die Versammlung wurde nach kurzer Zeit vom amerikanischen Geheimdienst C.I.C. (Counter Intelligence Corps) aufgelöst. Solche Aktivitäten waren den Besatzungsoffizieren zum damaligen Zeitpunkt suspekt.

Doch damit gaben sich die Initiatoren nicht zufrieden. Paul Pfetzing, Karl Kuba und andere trugen „noch in derselben Woche der amerikanischen Militärregierung für den Stadt- und Landkreis Kassel den auf Wiedererrichtung der freien Gewerkschaft gerichteten Wunsch der Kasseler Arbeiterschaft“ vor, heißt es in einem Schreiben vom 6.Juni 1945. Eine Entscheidung darüber wurde jedoch seitens der Amerikaner „von Woche zu Woche zurückgestellt“.

Die Zeitung der amerikanischen Besatzungsmacht

Die Militäradministration verfolgte damals vorrangig ihre eigenen Projekte, so die Herausgabe einer Zeitung der amerikanischen Streitkräfte für die deutsche Zivilbevölkerung. Diese Idee entstand schon Ende 1944. Unter der Leitung von Hans Habe, dem späteren Verantwortlichen dieser Blätter, wurde über Konzept und Namen entschieden: So entstand die „Hessische Post“.

Als den amerikanischen Truppen in Kassel im Keller des Redaktionsgebäudes der „Kasseler Post“ am Wilhelmshöher Platz 4 die Rotationsmaschinen unversehrt in die Hände fielen, war klar, dass hier die „Hessische Post“ für den mittleren Bereich der amerikanischen Besatzungszone gedruckt werden würde. Die Technik war ausreichend, um eine Millionen-Auflage zu produzieren, die das gesamte Gebiet von Westfalen bis Thüringen und Sachsen, von Südniedersachsen bis Hochtaunus versorgte.

Für die Amerikaner war eine Zeitung aus mehreren Gründen wichtig. Sie sollte die Bevölkerung über die politische und militärische Lage, sowie über die Zielvorstellungen der Alliierten informieren. Damit wollte man den auch in Kassel grassierenden Gerüchten der Boden entziehe. Über eine Zeitung war es außerdem einfacher, die Anordnungen und Befehlen der Besatzungsmacht bzw. der neuen Verwaltungen bekannt zu machen.

Da die „Kurhessische Landeszeitung“ mit dem Ende des Naziregimes ihr Erscheinen eingestellt hatte, erschien am 28.April 1945 die erste Ausgabe der neuen Zeitung. Sie enthielt Nachrichten über die allgemeine militärische Lage, wie „Die Russen im Herzen Berlins“ und „Amerikanischer Vormarsch auf Österreich“, wie auch Meldungen, die das Leben der Menschen vor Ort betrafen. So forderte das Gesundheitsamt der Militärregierung die Bevölkerung von Kassel auf, das Trinkwasser zehn Minuten lang vor Gebrauch abzukochen.

Wie ambivalent dieser journalistische Neuanfang sein konnte, berichtet Stefan Heym – zeitweilig Stellvertreter von Hans Habe – in seiner literarischen Autobiographie: „In Kassel interviewt er (S.H.) den Stadtingenieur: Sagen Sie, wäre es nicht praktischer, den Krempel, wie er ist, einfach stehen und liegen zu lassen und irgendwo nebenan ein neues Kassel hinzustellen? Aber nein doch, antwortet der, unter der Erde ist ja alles noch da, Kanalisation, Wasserleitungen, Kabel. Natürlich hat der Mann recht, und die Hessische Post wird seine Antwort drucken, so wie er sie gegeben hat, und natürlich ist er auch Nazi gewesen, was sonst; der Interviewer hat längst aufgegeben, den Deutschen, mit denen er tagtäglich zu tun hat, die Frage zu stellen: Und wann wurden Sie gezwungen, in die Partei einzutreten ?“

Kassel – Die Befreiung vom Faschismus

3. April 2020

Am 5.April 1945 begann für die Menschen in der Stadt Kassel ein neuer Abschnitt. Der Krieg war vorbei, die Probleme des Überlebens blieben jedoch. Am Morgen nach der Übergabe der Stadt an die amerikanischen Truppen hatten die Menschen eine Sicherheit: Von nun an würde es keinen Fliegeralarm mehr geben, kein stundenlanges Warten in Kellern und Bunkern. Hatte es vorher fast täglich mehrere Stunden Alarme gegeben, konnte man nun sicher sein: die Stadt, die noch stehenden Häuser und das eigene Leben waren durch den Krieg nicht mehr gefährdet. Niemand würde mehr von einem „Endsieg-fanatischen“ Nazi an die Front geschickt werden. Aber dennoch war das Leben für die über 70.000 Menschen in der Stadt, unter ihnen fast 30.000 Zwangsarbeiter, alles andere als normal.

Wie überall entstanden alliierte Kommandanturen. Der amerikanische Stadtkommandant Major Lamson richtete seine Diensträume im 1.Stock des Rathauses, im Flügel Wilhelmsstraße, der nicht so schwer beschädigt war, ein. Und er verfügte „Im Auftrage der Militärregierung“ in einer „Bekanntmachung An die Zivilbevölkerung!“ die Regeln für das weitere öffentliche Leben.

Für Zivilpersonen wurde eine Ausgangssperre bis 6.00 Uhr angeordnet. Die Totalverdunkelung musste beibehalten werden, da die Alliierten vereinzelte Gegenangriffe fürchteten.
Außerdem wurde eine Bewegungssperre verhängt. Ohne besondere Erlaubnis durfte sich niemand mehr als 6 km von seinem Wohnort entfernen, die Benutzung von Motorrädern und privaten Pkws, sowie der Eisenbahnen, wenn sie denn fuhren, bedurfte der Erlaubnis. Radioapparate und Schusswaffen mussten abgeliefert werden. Und da das Fotografieren sowie so verboten war, requirierten die amerikanischen Soldaten alle Kameras, die ihnen bei Haussuchungen und anderen Gelegenheiten in die Hände fielen.
Zeitungen und der gesamte Nachrichtenverkehr wurden erst einmal verboten. Versammlungen von mehr als 5 Personen öffentlich und in Privatwohnungen waren ebenfalls verboten.

All dies diente nicht der Wiederherstellung des öffentlichen Lebens, sondern dem Schutz der Alliierten, waren sie doch in ein feindliches Land gekommen.

Ein Problem für die Amerikaner war, wie diese Anordnung möglichst schnell der gesamten Bevölkerung bekannt gemacht werden konnte. Neben Plakatanschlägen in deutscher und englischer Sprache bedienten sie sich Deutscher, die der englischen Sprache mächtig waren, die sie als „Dolmetscher und Verbindungsmann zwischen der amerikanischen Regierung und der Bevölkerung“ einsetzten. Willi Seidel, der erste Bürgermeister nach 1945, berichtet: „Am Tage der Besetzung Kassels wurde ich von einem Herrn aus der Nachbarschaft (Oberingenieur Hähnel) davon unterrichtet, dass die Ausgehzeit der Deutschen auf 20 Uhr beschränkt sei und alle Waffen abgeliefert werden müssten. Herr Hähnel teilte mir dies im Auftrag eines Herrn d’Oleire mit, der von der Militärregierung als eine Art Vizebürgermeister für den Bezirk Wilhelmshöhe eingesetzt worden sein sollte.“ (Bestand Seidel, Bd.1, Stadtarchiv)

Für die meisten Kasseler Bürger war die Frage der Verwaltung und der Anordnungen der Amerikaner jedoch kein Problem, auch wenn der eine oder andere sich über den Verlust eines Fotoapparates bitterlich beschwerte. Existenzieller war sicherlich, dass der Zusammenbruch der Strom-, Gas- und Wasserversorgung, der schon in den letzten Kriegstagen das Leben der Menschen bestimmt hatte, auch nach der Befreiung zu großen Problemen in der Versorgung führte. Nur die Lebensmittelversorgung bereitete in den ersten Tagen nach der Befreiung wenige Probleme. Waren doch unmittelbar vor dem Ende die Lebensmittellager der Wehrmacht und im Weinbergbunker freigegeben worden. So hatten viele Familien Vorräte anlegen können, die erst Wochen später zur Neige gingen.

Die größte Sorge, die sich in den Berichten der ersten Tage immer wieder zeigt, war die Angst vor den Zwangsarbeitern. Wussten die Kasseler Bürger doch, wie mit ihnen umgegangen worden war, und befürchtete nun, dass diese „den Spieß umdrehen“ könnten. Selbst Willi Seidel sprach von „dem Unwesen der ausländischen Arbeiter“ und davon, dass Chaos, „Plünderungen und Vergewaltigungen … an der Tagesordnung waren“. Für eine solche Behauptung gibt es in Kassel jedoch keine ernsthaften Belege. Eine solche Aussage dokumentiert eher die damalige Verunsicherung und es zeigt, wie wenig Bewusstsein von der eigenen Verantwortung für das Geschehene vorhanden war.

Ältere Nachrichten · Neuere Nachrichten