Die Wiederherstellung der alltäglichen Lebensgrundlagen in der Stadt (Strom, Gas, Wasser, Versorgung) war durch die Kriegsfolgen nicht einfach und führte zu manchen Einschränkungen bei der Kasseler Bevölkerung. Wer sich hierüber beschweren wollte, musste aber auch darüber nachdenken, wer diesen Krieg unterstützt hatte – und das war nicht allein Hitler.
Es gab in dieser Zeit nur eine Gruppe von Deutschen, die offiziell von den Alliierten bevorzugt wurden. Das waren die Opfer nationalsozialistischer Verfolgung, die aus den KZs und Haftanstalten befreit zurückkehrten.
Für sie wurde auf Anordnung der Amerikaner im Rathaus, im Zimmer 112, eine Betreuungsstelle für entlassene politische Häftlinge eingerichtet. Der Leiter dieser Einrichtung, die unmittelbar dem Oberbürgermeister unter-stand, war Erwin Cohn, ein ehemaliger Verfolgter. Diese Betreuungsstelle „hilft mit Rat, Geld, Fahrtausweisen. Sie weist in Privatquartiere ein und verschafft, wenn möglich einen Platz im Erholungsheim. Sie versucht Arbeitsstellen zu vermitteln“, heißt es in einem großen Bericht der “Hessischen Post“ vom 30. Juni 1945. Dabei war diese Betreuungsstelle nicht allein für Kasseler, sondern für politische Häftlinge jeder Nationalität zuständig.
Längerfristige Unterstützung konnte jedoch nur rückkehrenden Kasseler Verfolgten gewährt werden. Manchen von ihnen wurde es ermöglicht, einige Zeit im Gnadenweg 7, im “Kameradschafts- und Erholungsheim der Stadt Kassel“, unterzukommen. „Hier erhalten sie vier Mahlzeiten am Tag und leben unter gesundheitlich zufriedenstellenden Verhältnissen. Ein Mann nahm hier in vier Wochen 14 Pfund zu. Die einzige Beschwerde besteht darin, dass sie keine Rauchwaren erhalten“, berichtete die “Hessische Post“. Angesichts der erlittenen körperlichen und seelischen Qualen war dies nur angemessen. Der Verwaltungsbericht der Stadt Kassel berichtet, dass vom 28. Mai 1945 bis Juni 1946 90 ehemalige KZ-Häftlinge mit zusammen 2300 Verpflegungstagen in diesem Haus untergebracht waren.
Doch damit waren die Probleme der zurückkehrenden Kasseler Häftlinge nicht gelöst, wie Hans Spill berichtet. Spill selbst war 1935 wegen “Vorbereitung zum Hochverrat“ ins Zuchthaus Wehlheiden gekommen und 1941 im KZ Sachsenhausen und danach Mauthausen inhaftiert worden. Ende Mai 1945 kehrte er nach Kassel zurück.
Er erzählt: „Also es fehlte alles. Meine Aufgabe war es zu organisieren, und das tat ich dann auch. Es war zwar eine Betreuungsstelle für politische Häftlinge im Rathaus eingerichtet, aber auch sie waren nicht in der Lage, alle Bedürfnisse zu erfüllen. Es hieß nun Eigeninitiative zu entwickeln.“
So besorgte er sich aus einem ehemaligen Arbeitsdienstlager in Harleshausen ein paar Schlafdecken. Aus dem Keller des Aschrottheims, das von den Amerikanern requiriert worden war, erhielt er nach einigem hin und her ein Federbett. Er hatte zwar Bezugsscheine, z.B. für einen Kochtopf, aber auch den bekam er nur durch Organisieren. Als ehemaligen Verfolgten wurde ihm zwar recht schnell Wohnraum zugewiesen, aber die dazugehörigen Möbel fehlten. Wie er dieses Problem lösen konnte, berichtet Hans Spill: „Viele führenden Nationalsozialisten waren in letzter Minute noch abgehauen und hatten ihr Mobiliar in ihren Wohnungen stehen gelassen. In der Gerstäckerstraße wohnte ein ehemaliger Arbeitsdienstführer. Er und seine Familie waren nach Bayern geflüchtet und hatten alles zurückgelassen. Mit Hilfe der Polizei des 1. Reviers durften wir uns benötigte Möbel- und Hausratstücke holen.“
Doch während der Leiter der Kasseler Betreuungsstelle von einer “heiligen Verpflichtung gegenüber diesen Menschen, die so viele Jahre tapfer durchgehalten und fast Übermenschliches erduldet“ hatten, sprach, sahen manche Mitbürger in Kassel das anders. Sehr bald kursierten Gerüchte über das “Wohlleben der KZler“ und Beschwerden über deren “Privilegierung“ in der Stadt. Schon wenige Wochen nach dem Ende hatte manch einer verdrängt, wie der Naziterror auch gegen Gegner in der eigenen Bevölkerung vorgegangen war, und wer tatsächlich versucht hatte, ungeachtet der Bedrohung für Freiheit und Leben, Widerstand zu leisten.
Daher wurde es den ehemaligen KZ-Häftlinge schnell klar, dass soziale Betreuungsarbeit und politische Arbeit zusammengehören, wie Ullrich Reinbach berichtete:
„In Kassel wollen wir nicht lediglich eine Betreuungsstelle haben, die zunächst einmal nichts weiter macht, als für die materiellen Dinge der Opfer des Faschismus zu sorgen, sondern wir wollen wirklich einen aktiven Block auf überparteilicher Grundlage schaffen, einen Bund, der sich für die neuaufzubauende Demokratie einsetzt.“
Und so entstand in Kassel im Herbst 1945 der “Bund ehemaliger politischer Gefangener“ mit August Cohn, Karl Eckerlin, Max Mayr, Ullrich Reinbach, Fritz Schmidt, Hans Spill und vielen anderen, aus dem 1946 die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes (VVN) hervorging.