Rüstungsschmiede und Durchhaltepropaganda im letzten Kriegswinter

16. März 2020

Wer 1944/45 überhaupt noch in der Stadt bleiben durfte, war entweder für den Kriegseinsatz zu alt, oder „uk“-gestellt, d.h. in der Naziverwaltung, in der Versorgung der Bevölkerung oder – was die meisten betraf – in der Rüstungsproduktion eingesetzt. Und mit den Betrieben Henschel & Sohn, Wegmann und Co., Henschel Flugmotorenwerk, Fieseler, Beck und Henkel und anderen hatte Kassel ja genug Rüstungsindustrie. Nicht allein ausländische Zwangsarbeiter, auch deutsche Arbeitskräfte – vor allem Fachkräfte wie Mechaniker, Techniker und Ingenieure – wurden dahin dienstverpflichtet.

Trotz Bombenschäden wurden noch bis zum März 1945 in Kassel Panzer gebaut. Bei Wegmann produzierte man Panzerkampfwagen mit Flammwerfer-Aufsatz, Teile der schweren Kampfpanzer Panther, Tiger I und des fast 70 Tonnen schweren Tiger II. Auch bei Henschel & Sohn wurden Teile für diese Panzer hergestellt. Hinzu kamen Panzerabwehrkanonen und in den Flugmotorenwerken Antriebe für Stukas, Nachtaufklärer und Schlachtflugzeuge.

Je schlechter die tatsächliche Frontlage war, desto häufiger hörte man – zumeist hinter vorgehaltener Hand – Meldungen über neuartige Wunderwaffen. Gerade in einer Rüstungsschmiede wie Kassel verbreiteten sich Gerüchte über Wunderwaffen, die noch einmal die “Wende im Krieg“ bringen sollten, äußerst schnell. Solche Gerüchte über “Wunderwaffen“ dienten der “Durchhalte“- und “Endsieg“-Propaganda: „Wie erzwingen wir die Schicksalswende?“ fragte ein Leitartikel der Kurhessischen Landeszeitung (KLZ). Der stellvertretende Propagandachef Sündermann gab den Lesern auch gleich die Antwort: Man müsse nur warten, bis „der jüdische Angriff, der geführt wird, um uns zu vernichten, zusammenbricht“. Daher liege „im Halten … die Rettung des Reiches und die Gewißheit des Sieges.“

Dieser Propaganda stand nur die täglich erlebte Kriegsrealität im Wege. Am 10. März fand man in der KLZ die lapidare Meldung: „Die Anglo-Amerikaner setzten am gestrigen Tage ihre Terrorangriffe gegen das westliche Reichsgebiet fort. Starke Schäden entstanden erneut in Kassel, Münster und Frankfurt a.M.“ Für die Menschen in Kassel stellte es sich anders dar.

Am späten Abend des 8.März und am Vormittag des 9.März 1945 erlebten sie zwei schwere Angriffe von britischen und amerikanischen Bomberverbänden. Ziel der Angriffe war es laut “Night Raid Report“ No. 859 der Royal Air Force (RAF), „die Zerstörung der Stadt zu komplettieren und die Produktion der verbundenen Panzer- und Flugzeugmotoren-fabriken zu unterbinden und Reichsbahn-Einrichtungen (rail facilities) zu zerstören.“ (Stadtarchiv S 8 C107) Und es waren solche Objekte, die von Anfang an Kassel zu einem wichtigen Ziel der alliierten Luftangriffe gemacht hatte: Die Stadt als Rüstungsschmiede mit Henschel, Wegmann und Fieseler, die Stadt als Zentrum des Militärs mit Generalkommando, Wehrmachtseinrichtungen, Kasernen und als Stadt der Reichskriegertage, sowie als Verkehrsknotenpunkt für Truppenbewegungen und Rüstungsgüter.

Beim März-Angriff setzten die Briten fast 270 Flugzeuge ein, die Amerikaner am folgenden Tag über 320 Bomber. Wie wenig die deutsche Militärmaschinerie dieser Übermacht noch entgegenzusetzen hatte, zeigten die alliierten Verluste durch Luftabwehr. Nur ein einziges Begleitflugzeug, eine “Mosquito“ der RAF, wurde abgeschossen. Jeder Glaube an den “Endsieg“ musste vor solchen Realitäten kapitulieren.

Anhand von Luftaufnahmen stellten die Spezialisten fest, welche Schäden die Angriffe verursacht hatten. Detailliert listete der “Interpretation Report“ auf: Treffer auf den Verschiebebahnhof Rothenditmold, auf das Reichsbahnausbesserungswerk, auf die Henschelwerke I, II und III. Darüber hinaus wurden Schäden auf den Flugplätzen Rothwesten und Waldau festgestellt. Gleichzeitig wurden zahlreiche Brände im Zentrum von Kassel als Resultat des RAF-Angriffes registriert.

Besonders getroffen war das Südviertel, wie sich ein Zeitzeuge erinnert: „Es gab keinen Warndienst mehr. Die Hauptstraße des Viertels, die Frankfurter Straße, war ein Inferno.

Durch den Abwurf von Phosphorbomben und Sprengbomben brannten die meisten vier-stöckigen Häuser vom Dach bis zum Erdgeschoss zur gleichen Zeit wie Fackeln. Es war eine unvorstellbare Hitze. Auf der Straße entdeckte ich zwei tote Menschen; noch ungefähr 80 cm groß, verkohlt. Beim letzten Angriff am nächsten Tag verloren viele Menschen ihre letzte Habe, die sie nachts noch gerettet hatten. Die Habseligkeiten standen auf dem Gelände der Kunstakademie in der Menzelstraße. Dort und an anderer Stelle fielen Sprengbomben, zum Teil mit Zeitzünder.“

Glücklicherweise wurden bei beiden Angriffen nur etwa 60 Menschen getötet, die Zahl der Verletzten war jedoch erheblich höher. Doch gab es so gut wie keine Möglichkeit, sie ordnungsgemäß medizinisch zu versorgen. Krankenhäuser waren beschädigt oder zerstört, Ärzte fehlten an allen Ecken und Enden. Einer der letzten war Dr. Sommerfeld, der im Weinberg-Bunker Verletzte versorgte. Vorrangig sollte er jedoch Wehrmachtangehörige “Front-fit“ machen.