Der Mord auf dem Friedhof Wehlheiden

25. März 2020

Am Karfreitag 1945 ließ die Gestapo durch ein vierköpfiges Kommando 12 Häftlinge des Zuchthauses auf dem Friedhof Wehlheiden ermorden. Als die Täter nach dem Krieg verhört wurden, redeten sie sich heraus. Einer habe zwar „als Kommandant teilgenommen …, aber persönlich habe ich auf die Verurteilten nicht geschossen.“ Ein anderer erklärte, dass seine Pistole Ladehemmungen gehabt habe. Und auch ein dritter „will dabei nicht mitgeschossen, sondern sich bei den rasch ablaufenden Vorgängen mit Absicht zurückgehalten haben.“ Der vierte musste sich nicht mehr verteidigen. Er war bereits 1947 verstorben.

Was war nun tatsächlich passiert?

Im Zuchthaus Kassel-Wehlheiden unterhielt die Kasseler Gestapo während des Krieges eine eigene Abteilung. Sieben Zellen der Abteilung B4 standen ausschließlich der Gestapo zur Verfügung. Dort lieferte sie Gefangene ein, die teilweise noch verhört werden sollten oder die bereits zur Überstellung an eine andere Haftanstalt bzw. ein Konzentrationslager vorgesehen waren. Zwar war das Zuchthaus für die Verpflegung zuständig, so dass die jeweilige Belegungsstärke an die Verwaltung gemeldet werden musste, die Häftlinge wurden jedoch ohne richterlichen Haftbefehl und ohne Angabe der Personalien eingeliefert. Ende März 1945 befanden sich 74 Gestapohäftlinge in der Abteilung B4.

Als am Gründonnerstag, den 29.März 1945, der Räumungsbefehl für das Zuchthaus Wehlheiden kam und die Strafgefangenen per Zug nach Halle verlegt wurden, verblieben die Gestapohäftlinge in Kassel, da für sie kein Transportbefehl vorlag.

Da selbst „5 Minuten nach 12“ nichts ohne Befehl stattfinden durfte, wurde am nächsten Tag ein Wachmann in die Goetheanlage zum Kasseler Gestapochef Marmon geschickt, um zu erfragen, was mit den Gefangenen geschehen solle. Marmon teilte daraufhin die verbliebenen Häftlinge in zwei Gruppen ein: Die erste Gruppe von etwa 60 sollte aus Kassel herausgebracht werden. Eine zweite Gruppe von 12 Personen sollte ohne Prozess oder Urteil liquidiert werden. Er beauftragte den Kriminalsekretär Kurt Knigge, ein Exekutionskommando zusammenzustellen und die 12 Häftlinge zu erschießen. Knigge wählte daraufhin fünf weitere Beamte für dieses Kommando aus und machte sich mit ihnen auf den Weg.

Dass es selbst in dieser Situation noch möglich war, sich der Beteiligung an einer solchen Mordaktion zu entziehen, berichtet der Historiker Michael Jäger: „Zwei der Beamten erklärten, noch warten und später mit Fahrrädern nachkommen zu wollen. Stattdessen fuhren sie zum Hauptfriedhof und warteten dort zwei Stunden, bevor sie in die Goetheanlagen zurückkehrten. Sie vermieden so ihre Beteiligung an der Erschießung.“

Die anderen marschierten zum Zuchthaus und holten dort die Gruppe der 12 Häftlinge ab. Zu zweien aneinandergefesselt wurden sie durch den Grasweg zum Wehlheider Friedhof gebracht. Dort angekommen wurden sie unverzüglich von den Beamten mit Maschinenpistolen niedergeschossen. Ein Häftling versuchte angesichts des Todes noch zu fliehen, auch er wurde erschossen. Nachdem die Leichen verscharrt worden waren, kehrte das Kommando zurück und Knigge erstattete „Vollzugsmeldung“.

Wer waren die Opfer?

Im Nachhinein wurde von den Tätern behauptet, es habe sich bei der Gruppe der 12 um „Mörder“ und „Plünderer“ gehandelt. Soweit bis heute überhaupt etwas über die Identität der Opfer gesagt werden kann, sind diese Behauptungen falsch. Nur 8 der 12 Namen sind bekannt. Es handelt sich um die Ukrainer Alex Bouch und Krigo Schlachovsi, die Polen Henryk Kdazokowski und Ludwig Ziokowski, den Franzosen Pierre Bourgoise, den Italiener Battista Barrachetti und die beiden Deutschen Peter Steier und Wolfgang Schönfeld.

Das Schicksal von Wolfgang Schönfeld ist besonders tragisch. 1917 in Kassel geboren, erlebte er seit 1933 die gesellschaftliche Ausgrenzung aller jüdischen Bürger am eigenen Leib. 1943 wurde er wegen angeblicher „Rassenschande“ verhaftet und ins KZ Auschwitz deportiert. Im August 1944 gelang ihm die Flucht und er kehrte unerkannt nach Kassel zurück, wo er bis Ende Dezember versteckt lebte. Am 25. Dezember 1944 wurde er jedoch bei einer Kontrolle am Hauptbahnhof von der Polizei verhaftet, der Gestapo übergeben und im Zuchthaus Wehlheiden in der Abteilung B4 inhaftiert. Er, der KZ und Illegalität überlebt hatte, wurde nun – die Befreiung durch die vorrückenden Alliierten vor Augen – noch ermordet.