Kassel begeht den Antikriegstag 2020

1. September 2020

,

Trotz Corona-Einschränkungen konnte in Kassel die traditionelle Antikriegstagsaktion der Friedensbewegung stattfinden. Beginnend am Obelisken in der Treppenstraße sprachen nach einem musikalischen Auftakt von Hans Dinant das Kasseler Friedensforum, die Vertreter der katholischen und der evangelischen Kirche und ein Sprecher der „Seebrücke“. Sie unterstrichen mit eindrucksvollen Worten die Aktualität dieses Datums.

Gemeinsam begaben sich die etwa 200 Teilnehmenden auf einen kurzen Demonstrationszug durch die Kasseler Innenstadt zum Friedrichsplatz, wo die Abschlusskundgebung stattfand.

Auch hier begleitete Hans Dinant mit seinem Repertoire an Antikriegsliedern die Aktion. Auf der Abschlusskundgebung sprach als Vertreterin der DGB Region Nordhessen Jenny Huschke, die den Zusammenhang zwischen Abrüstung und sozial angemessener Finanzierung von Gesundheitswesen und Bildung thematisierte.

Für die VVN-BdA erklärte Ulrich Schneider an den konkreten Beispielen der Kriegsplanung und Kriegsvorbereitung, welche Rolle Kassel bezogen auf den Zweiten Weltkrieg gespielt hat und wer als Opfer dieses Krieges angesehen werden könne.

Nachfolgend die Ansprache im Wortlaut:

Wenn wir hier auf dem Friedrichsplatz unsere Abschlusskundgebung zum diesjährigen Antikriegstag durchführen, dann sollten wir uns bewusst machen, dass dies in Kassel der Ort der ideologischen Kriegsvorbereitung, der offenen Kriegspropaganda war.

Seit 1935 fanden auf diesem Platz die Aufmärsche anlässlich der alljährlichen „Reichskriegertage“ statt. Hier versammelten sich alle Ewig-Gestrigen, die gewillt waren, die Ergebnisse des Ersten Weltkriegs militärisch zu revidieren. Einmal im Jahr trafen ehemalige Frontkämpfer, des Stahlhelms, des Kyffhäuser-Verbandes und des NS-Frontkämpfer-Verbandes auf dem Friedrichsplatz in Marschformation zusammen und bekräftigten, dass sie den Versailler Vertrag so schnell wie möglich überwinden wollten. Selbst wenn bei diesen Gelegenheiten das Wort „Frieden“ öffentlich geäußert wurde, so bedeuteten doch die Forderungen nach „Gleichberechtigung mit England und Frankreich“ nichts anderes als militaristische Machtansprüche gegenüber den Nachbarländern.

Anlässlich des 1. Großdeutschen Reichskriegertages marschierten nach Berichten des Propagandaministeriums fast 300.000 Soldaten des Ersten Weltkriegs und der Wehrmacht aus dem Deutschen Reich, Österreichs und dem Sudentengebiet im Juni 1939 in Kassel auf. Selbst Hitler flog zu diesem militärischen Aufmarsch ein. In dem Online-Lexikon „regiowiki“ kann man über diese Propagandaaufmarsch lesen, es gab „Erbsensuppe mit Speck, Gulasch mit Pilzen und Ochsenfleisch mit Nudeln.“ Dass mit dieser Machtdemonstration, zu der man auch Gäste aus Italien, Rumänien und Japan eingeladen hatte, jedoch der Zweite Weltkrieg eingeläutet wurde, sucht man dort vergeblich.

Aber nicht nur auf der Ebene der Propaganda hatte sich Kassel bis 1939 zu einem Zentrum der faschistischen Kriegsvorbereitung und Kriegsführung entwickelt.

In Kassel fand die strategische Kriegsplanung des Oberkommandos der Wehrmacht in den Räumen des Generalkommandos, das von dem ursprünglich beschränkten Gebäude hier in der Oberen Königstraße im Mai 1938 in den Gebäudekomplex am Bahnhof Wilhelmshöhe umzog, statt. In sieben großen Sitzungssälen gab es nun genügend Platz für Sandkastenspiele zur Einsatzplanung beim Überfall auf Polen, dem Fall „Grün“, dem geplanten Überfall auf Frankreich, Belgien und die Niederlande, dem Fall „Weiß“, oder zum Einsatz der Heereseinheiten beim Überfall auf die Sowjetunion, dem Fall „Barbarossa“

Kassel war einer der zentralen Produktionsorte für Kriegsmaterial – erinnert sei nur an die Panzer- und Militärfahrzeugproduktion bei Henschel, Bode, Wegmann und Crede sowie an das im Krieg errichtete Werk für Henschel Flugmotoren, dem Gebäude des heutigen VW-Werks in Baunatal. Und das waren nur die größten Betriebe.

Kassel war ein logistisches Zentrum der Truppenbewegung und der Transporte von Militärgütern zwischen der West- und Ostfront oder vom Produktionsort Ruhrgebiet an die verschiedenen Frontabschnitte. Wer die militärische Infrastruktur des faschistischen Deutschlands treffen wollte, lag mit einem Angriff auf Kassel durchaus richtig.

Und so entwickelte sich Kassel faktisch zum Magnet für alliierte Bombenziele. Den schwersten Angriff erlebte die Stadt in der Nacht vom 22./23. Oktober 1943. Trotzdem hört man bis heute in der Stadt Stimmen, die erklären, die Kasseler Zivilbevölkerung sei Opfer des „alliierten Luftterrors“ geworden. Gegen solche Aussagen möchte ich deutlich unterstreichen – der Begriff „Opfer“ ist richtigerweise nur anzuwenden auf diejenigen, die tatsächlich Verfolgte des Naziregimes gewesen sind. Und das war bereits eine große Gruppe der Gesellschaft.

Zu ihnen gehörten in Kassel die politischen Gegner, Gewerkschafter, Kommunisten, Sozialdemokraten, linke Liberale und andere, die seit 1933 in der Stadt verfolgt und inhaftiert, nach Breitenau verschleppt oder später im Zuchthaus Kassel-Wehlheiden inhaftiert wurden. Zu den Opfern des Faschismus gehörte die große Zahl der aus Gründen des Rassismus Verfolgten, die große Zahl jüdischer Bürger, Sinti und Roma oder so genannte „Gemeinschaftsfremde“, die sich – aus der Sicht der Nazis – nicht in die Volksgemeinschaft einordneten. Und zu den Opfern gehörten selbstverständlich auch die Kriegsgefangenen und ausländischen Zwangsarbeiter des Zweiten Weltkrieges, von denen weit über 30.000 allein nach Kassel verschleppt worden waren. Sie verdienen aus meiner Sicht den Begriff „Opfer“, auch wenn sich die politischen Gegner selber auch als Kämpfer gegen den Faschismus verstanden.  

Mit dieser Aussage liegt es mir fern, die Kasseler Toten des Bombenkrieges abzuwerten. Denn die 10.000 Toten der Bombennacht waren auch Opfer, aber sie waren Opfer der deutschen faschistischen Kriegspolitik und sie waren in gewisser Weise Opfer ihrer eigenen Verblendung, denn – wie wir wissen – hat ein Großteil der Bevölkerung diese Kriegspolitik mitgetragen. Schon als 1933 die Propaganda-Veranstaltung „Luftschutz tut Not“ in der Karlsaue vor der Orangerie mit dem Abbrennen der Papp-Masche-Silhouette der Stadt Kassel endete, waren Tausende Schaulustige Zeugen des Geschehens. Von irgendwelchen Formen von Zweifeln oder gar öffentlichem Widerspruch ist nichts bekannt.

Diejenigen, die warnten „Wer Hitler wählt, wählt Krieg“, waren schon vor 1933 in der Minderheit. Und diejenigen, die sich bis 1939 den Kriegsvorbereitungen entgegenstellten, waren eine noch kleinere Gruppe. Aber sie standen auf der richtigen Seite der Geschichte.

An sie wollen wir am heutigen Antikriegstag einmal mehr erinnern. Und ihren Beispielen folgend müssen wir heute – unter viel einfacheren Bedingungen, wo wir nicht um unsere Freiheit, Gesundheit oder gar Leben fürchten müssen – uns in aller Deutlichkeit gegen Kriegspolitik, Konfliktverschärfung durch Rüstungsexporte, militärische Konfliktlösungen und Rassenhass, der zu Gewalt auch im Inneren unseres Landes führt, wehren.

Damals wurden unter dem Schlagwort „Volksgemeinschaft“ alle so genannten „Gemeinschaftsfremden“ ausgegrenzt, drangsaliert und verfolgt. Heute glauben rassistische Gewalttäter, wie vor einem halben Jahr in Hanau oder zuvor in Halle, den „Volkswillen“ umzusetzen, wenn sie ihren Hass gegen Menschen, die sie zu „Fremden“ erklären, in Mordaktionen umsetzen. Kriegs nach Außen und Gewalt nach Innen sind jedoch nur zwei Seiten derselben Medaille – nämlich Faschismus. Und daher bleiben wir dabei: „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen!“