8. Mai 2020
Am 8. Mai 2020 nahmen auf dem Opernplatz in Kassel etwa 100 Menschen an einer Kundgebung der DGB Region Nordhessen, des Kasseler Friedensforums und der VVN-BdA Kreisvereinigung Kassel zum Tag der Befreiung teil. Es waren weit mehr als erwartet. Zu ihnen sprachen Jenny Huschke, als Regionsgeschäftsführerin des DGB, Frank Skischus für das Friedensforum und Ulrich Schneider für die VVN-BdA. In einer zweiten Kundgebung im Ehrenmal für die Opfer des Faschismus im Fürstengarten berichtete Jochen Boczkowski als Zeitzeuge über seine Erfahrungen der letzten Kriegsjahre in Kassel und wie er zum Antifaschisten wurde. Silvia Gingold zitiere aus den Erinnerungen ihres Vater Peter Gingold zum 8. Mai 1945 in Turin. Unter den Klängen von „Bella Ciao“ legten die Teilnehmenden Blumen am Ehrenmal nieder.
Nachfolgend die Ansprache von Ulrich Schneider:
Wir erinnern in diesem Jahr an den 75. Jahrestag der Befreiung von Faschismus und Krieg.
Die Erinnerung an dieses Datum ist ein wichtiger Teil unserer politischen Kultur. Die meisten von uns werden sich noch daran erinnern, dass es 40 Jahre gedauert hat, bis ein deutscher Bundespräsident, nämlich Richard von Weizsäcker zum ersten Mal diese Begrifflichkeit benutzt hatte. Bis dahin sprach man von Niederlage, Kapitulation oder Katastrophe – aber nicht davon, dass auch die deutsche Bevölkerung vom Faschismus befreit wurde, selbst diejenigen, die noch bis 5 Minuten nach 12 „in Treue fest“ mit dem Regime verbunden waren.
In Kassel hatte diese Befreiung durch die alliierten Streitkräfte bereits einige Wochen vorher stattgefunden. Es waren die Ostertage 1945, als amerikanische Einheiten das Kasseler Becken erreichten und nach wenigen Tagen den letzten Widerstand von Wehrmacht, Volkssturm und SS – Verbänden zerschlugen.
Am 4. April 1945 kapitulierten die letzten Wehrmachtseinheiten, nachdem sie noch mehrere Tage – also bis 5 Minuten nach 12 – unsinnigen Widerstand geleistet hatten und damit den Tod weiterer Menschen zu verantworten hatten.
Sie hatten mit diesem militärischen Widerstand auch zu verantworten, dass in den letzten Stunden vor der Befreiung der Stadt die Gestapo und SS noch drei Verbrechen begehen konnten. Sie ermordeten am Karfreitag 1945 zwölf Häftlinge des Zuchthaus Wehlheiden, darunter Wolfgang Schönfeld, der 1944 als Deserteur verhaftet worden war, ohne irgendein Urteil auf dem Wehlheider Friedhof.
Sie ermordeten am Ostersamstag 78 italienische Zwangsarbeiter und einen sowjetischen Häftling angeblich wegen Plünderung – sie hatten sich aus einem aufgebrochenen Wehrmachtstransport auf dem Bahnhof Wilhelmshöhe Lebensmittel genommen. Sie wurden ebenfalls standrechtlich erschossen. Verantwortlich war in beiden Fällen der Leiter der Kasseler Gestapo Franz Marmon. Auf seinen Befehl hin wurden ebenfalls am Ostersamstag 28 Häftlinge des Arbeitserziehungslagers Breitenau, darunter 16 sowjetische, 10 französische und 2 niederländische Gefangene von SS-Leuten in den Fuldabergen bei Guxhagen ermordet.
Es scheint mir heute wieder nötig zu sein, an diese Verbrechen zu erinnern, um die Perspektive, die mancher Zeitgenosse mit dem Kriegsende verbindet, die „Deutschen seien doch auch Opfer gewesen“, zurückzuweisen.
Aber selbst für Mitläufer und Mittäter des NS-Regimes waren der 4. April in Kassel und der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung. Eröffnete er ihnen doch die Möglichkeit aus dem faschistischen System und den Fesseln der „Volksgemeinschaftsideologie“ auszubrechen und nun einen neuen Weg zum Aufbau einer demokratischen und friedlichen Gesellschaft mitzugehen.
Und anders als Alexander Gauland von der AfD, der vor wenigen Tagen beklagte, der 8. Mai 1945 sein „ein Tag der absoluten Niederlage, ein Tag des Verlustes von großen Teilen Deutschlands und des Verlustes von Gestaltungsmöglichkeit“ für das Deutsche Reich gewesen, haben die Antifaschisten auch in unserer Stadt die Befreiung als Chance begriffen, eine neue Gesellschaft zu gestalten.
Trotz Ausgeh- und Versammlungsverbot kamen schon in den ersten Tagen und Wochen nach der Befreiung Kasseler Nazigegner zusammen, um zu überlegen, wie ein politischer Neuanfang aussehen soll. Ehemalige Mitglieder der SPD, unter ihnen Rudolf Freidhof, Georg Häring und Hans Nitsche trafen sich zum ersten Mal Mitte April in der Privatwohnung von Karl Hermann in der Frankfurter Str.7 und später in den Räumlichkeiten des Rathauses. Unter aktiver Beteiligung von Kommunisten entstanden in den stillgelegten Betrieben und einigen Stadtteilen die ersten „antifaschistischen Komitees“. Darüber hinaus fanden sich Einwohner verschiedener politischer Richtungen in „Aufräumungsausschüssen“ zusammen.
Den ersten organisationspolitischen Neuanfang versuchten ehemalige Gewerkschafter, wie Karl Eckerlin, Theo Hüpeden und Paul Pfetzing. Nach einigen Vorgesprächen fand am 25. April 1945 im Rathaus im Rathaus eine erste Zusammenkunft mit etwa 80 Personen statt. Doch es konnten keine Beschlüsse gefasst werden. Die Versammlung wurde nach kurzer Zeit vom amerikanischen Geheimdienst C.I.C. (Counter Intelligence Corps) aufgelöst. Solche Aktivitäten waren den Besatzungsoffizieren zum damaligen Zeitpunkt suspekt.
Doch damit gaben sich die Initiatoren nicht zufrieden. Karl Kuba, Paul Pfetzing und andere trugen „noch in derselben Woche der amerikanischen Militärregierung für den Stadt- und Landkreis Kassel den auf Wiedererrichtung der freien Gewerkschaft gerichteten Wunsch der Kasseler Arbeiterschaft“ vor, heißt es in einem Schreiben vom 6.Juni 1945. Eine Entscheidung darüber wurde jedoch seitens der Amerikaner „von Woche zu Woche zurückgestellt“.
Wenn wir also an den 75. Jahrestag der Befreiung von Faschismus und Krieg erinnern, dann auch an diejenigen Frauen und Männer, die sich für den antifaschistisch-demokratischen Neubeginn in unserer Stadt eingesetzt haben. Und sie haben einiges von ihren Zielen versucht umzusetzen.
Die politische Losung „Nie wieder Krieg!“ haben beispielsweise die Arbeiter in Kassel konkret übersetzt mit „Nie wieder ‚Tiger-Stadt‘!“. Und als im Deutschen Bundestag über die Remilitarisierung diskutiert wurde, kam es in Kassel zum ersten politischen Streik, als die Arbeiter von Henschel und anderen Unternehmen spontan auf die Straße gingen und gegen die Wiederaufrüstung protestierten. Wir alle wissen, dass dieser politische Widerstand nicht von Erfolg gekrönt war.
Umso dringender ist es für mich, in Erinnerung an den 75. Jahrestag der Befreiung der Stadt und der damaligen Verpflichtung „Nie wieder Krieg!“ heute für ein Ende der Kriegsproduktion in unserer Stadt und für Rüstungskonversion einzutreten. Natürlich wusste man damals und wissen wir heute, dass mit Rüstung enorme Profite gemacht werden. Aber damals war es auch im allgemeinen Bewusstsein, dass solche Profite Blutgeld sind – bezahlt mit dem millionenfachen Tod der Zivilbevölkerung, mit den Opfern auch in dieser Stadt.
Und wir sollten auch die zweite Losung des 8. Mai 1945 nicht vergessen: „Nie wieder Faschismus!“ Natürlich wissen wir, dass ein faschistisches Regime nicht vor der Tür steht, aber wenn wir heute an den 75. Jahrestag der Befreiung erinnern, müssen wir auch daran erinnern, dass vor 14 Jahren der neofaschistische Mordterror des Netzwerkes des NSU in Kassel zugeschlagen hat. Halit Yozgat wurde am 6. April 2006 in Kassel ermordet. Und es ist nicht einmal ein Jahr her, da wurde Anfang Juni 2019 der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke von dem Neofaschisten Stefan Ernst und seinem Komplizen brutal ermordet. Das sind nur zwei blutige Beispiele, die unsere Losung bestätigen „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen“.
Und in diesem Sinne ist und bleibt für uns der 8. Mai der Tag der Befreiung, aber auch ein Tag der Mahnung und der Selbstverpflichtung, das Vermächtnis der Überlebenden politisch fortzusetzen. Und damit das nicht allein in diesem Jahr so ist, sondern auch in den kommenden Jahren, hat die VVN-BdA – initiiert durch einen offenen Brief der Auschwitz Überlebenden Esther Bejarano an Bundespräsident Steinmeier – eine Petition auf den Weg gebracht, den 8. Mai bundesweit zum Feiertag zu erklären. Ich kann euch die erfreuliche Nachricht überbringen, dass diese Petition ein voller Erfolg ist. Gestern wurden den Vertretern des Deutschen Bundestages bereits 95.000 Unterstützernamen übergeben und von Abgeordneten der SPD, der Grünen, der FDP und der LINKEN übernommen. Sie versprachen, sich auch in diesem Parlament für dieses Anliegen einzusetzen.
Heute Vormittag wurde die Zahl von 100.000 Unterstützern überschritten und es kommen stündlich weitere dazu.
Herzlichen Dank für diese großartige Unterstützung.