Am 1. September 2018 fand die schon traditionelle Kundgebung zum Antikriegstag auf dem Friedrichspaltz in Kassel statt. Vor etwa 200 Teilnehmenden und zahlreichen interessierten Passanten sprachen Bernd Rotauge (GEW), Dechant Fischer (Katholische Kirche), ein Vertreter der „Seebrücken“-Initiative und Jenny Huschke (Regionsvorsitzende des DGB). Die Band Dylons Dream unterstützte die Veranstaltung musikalisch. Gemeinsam zog man zum Abschluss zum Mahnmal für die Opfer des Faschismus (Fürstengarten), wo Ulrich Schneider für die VVN-BdA eine Abschlussrede hielt. Hier der Text der Rede:
Heute Morgen fand in der Matthäuskirche in Niederzwehren eine eindrucksvolle Veranstaltung zum Gedenken an belgische und französische Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter des Ersten Weltkrieges statt. Hier wurde an ein Kriegsverbrechen an 8000 belgische Zwangsarbeiter erinnert, was in unserer Stadt in den vergangenen Jahrzehnten weitgehend verdrängt ist, obwohl viele von uns sicherlich die Kriegsgräberstätte auf dem „Keilsberg“ in Niederzwehren als britischen und russischen Friedhof kennen. In Belgien und Frankreich wurde aber die Erinnerung an diese Zeit lebendig gehalten, so dass heute daran erinnert werden konnte.
Es zeigt sich, dass Kassel bereits im ersten Weltkrieg eine wichtige Funktion in der deutschen Kriegsplanung und Umsetzung der Kriegsziele hatte. Im Schloss Wilhelmshöhe traf sich die Generalität – nicht um mit Kaiser Wilhelm II die Sommerfrische zu genießen – sondern um den Krieg zu planen, den Verlauf der Schlachten und das deutsche Vorgehen zu koordinieren. Und in Kassel selber wurden zahllose Kriegsgefangenen und Zwangsarbeiter als Hilfskräfte in der Landwirtschaft, in städtischen Diensten und der Industrie eingesetzt, um die Kriegsmaschine am Laufen zu halten.
Kassel hatte also schon im Ersten Weltkrieg lange Tradition als Stadt des Militarismus. Dieses wurde nur kurz unterbrochen durch die Novemberrevolution, an deren 100. Jubiläum wir in diesem Jahr erinnern. Ein Arbeiter- und Soldatenrat residierte wenige Wochen im Rathaus, bevor die alten Kräfte wieder ihren Einfluss zurückgewinnen konnten.
Und so kam es, dass Kassel sich bis 1939 wieder zu einem Zentrum der faschistischen Kriegsvorbereitung und Kriegsführung entwickelte, so dass die Stadt quasi zu einem Magneten für alliierte Luftangriffe im Zweiten Weltkrieg wurde.
In Kassel fand die strategische Kriegsplanung des Oberkommandos der Wehrmacht in den Räumen des Generalkommandos, das aus dem ursprünglich beschränkten Gebäude in der Oberen Königstraße im Mai 1938 in den Gebäudekomplex am Bahnhof Wilhelmshöhe umzog, statt. In sieben großen Sitzungssälen gab es nun genügend Platz für Sandkastenspiele zur Einsatzplanung beim Überfall auf Polen, dem Fall „Grün“, dem geplanten Überfall auf Frankreich, Belgien und die Niederlande, dem Fall „Weiß“, oder zum Einsatz der Heereseinheiten beim Überfall auf die Sowjetunion, dem Fall „Barbarossa“
Kassel war außerdem einer der zentralen Produktionsorte für Rüstungsgüter – erinnert sei nur an die Panzer- und Militärfahrzeugproduktion bei Henschel, Bode, Wegmann und Crede sowie an das im Krieg errichtete Werk für Henschel Flugmotoren, dem Gebäude des heutigen VW-Werks in Baunatal. Und das waren nur die größten Betriebe.
Kassel war ein logistisches Zentrum der Truppenbewegung und der Transporte von Militärgütern zwischen der West- und Ostfront oder vom Produktionsort Ruhrgebiet an die verschiedenen Frontabschnitte. Wer die militärische Infrastruktur des faschistischen Deutschlands treffen wollte, lag mit einem Angriff auf Kassel durchaus richtig.
Und Kassel war nicht zuletzt ein Ort der Kriegspropaganda. Seit 1935 war diese Stadt als „Stadt der Reichskriegertage“ der Aufmarschplatz für alle Ewig-Gestrigen, die gewillt waren, die Ergebnisse des Ersten Weltkriegs militärisch zu revidieren. Einmal im Jahr trafen ehemalige Frontkämpfer auf dem Friedrichsplatz in Marschformation zusammen und bekräftigten, dass sie den Versailler Vertrag so schnell wie möglich überwinden wollten.
Selbst wenn bei diesen Gelegenheiten das Wort „Frieden“ öffentlich geäußert wurde, so bedeuteten doch die Forderungen nach „Gleichberechtigung mit England und Frankreich“ nichts anderes als militaristische Machtansprüche gegenüber den Nachbarländern.
All das darf man nicht vergessen, wenn in diesem Jahr an den 22./23. Oktober 1943 als 75. Jahrestag der Bombardierung der Stadt erinnert wird.
Doch heutzutage sind in unserer Stadt auch Stimmen zu hören, die erklären, die Kasseler Zivilbevölkerung sei Opfer des „alliierten Luftterrors“ geworden. Gegen solche Aussagen möchte ich deutlich unterstreichen – der Begriff „Opfer“ ist richtigerweise nur anzuwenden auf diejenigen, die tatsächlich Verfolgte des Naziregimes gewesen sind. Und das war bereits eine große Gruppe der Gesellschaft:
Zu ihnen gehörten in Kassel die politischen Gegner, Gewerkschafter, Kommunisten, Sozialdemokraten, linke Liberale und andere, die seit 1933 in der Stadt verfolgt und inhaftiert, nach Breitenau verschleppt oder später im Zuchthaus Kassel-Wehlheiden inhaftiert wurden.
Zu den Opfern des Faschismus gehörte die große Zahl der aus Gründen des Rassismus Verfolgten, die große Zahl jüdischer Bürger – und in diesem Jahr erinnern wir an den 80. Jahrestag der Reichpogromnacht, die am 7. November in Kassel ihren Anfang nahm – , Sinti und Roma oder so genannte „Gemeinschaftsfremde“, die sich – aus der Sicht der Nazis – nicht in die Volksgemeinschaft einordneten.
Und zu den Opfern gehörten selbstverständlich auch die Kriegsgefangenen und ausländischen Zwangsarbeiter des Zweiten Weltkrieges, von denen weit über 30.000 allein nach Kassel verschleppt worden waren.
Sie alle verdienen aus meiner Sicht den Begriff „Opfer“, auch wenn sich die politischen Gegner selber auch als Kämpfer gegen den Faschismus verstanden.
Mit dieser Aussage liegt es mir fern, die Kasseler Toten des Bombenkrieges abzuwerten. Denn die 10.000 Toten der Bombennacht waren auch Opfer, aber sie waren Opfer der deutschen faschistischen Kriegspolitik und sie waren in gewisser Weise Opfer ihrer eigenen Verblendung, denn – wie wir wissen – hat ein Großteil der Bevölkerung diese Kriegspolitik mitgetragen.
Als in den 30er Jahren die Propaganda-Veranstaltung „Luftschutz tut Not“ in der Karlsaue vor der Orangerie mit dem Abbrennen der Papp-Masche-Silhouette der Stadt Kassel endete, waren Tausende Schaulustige Zeugen des Geschehens. Von irgendwelchen Formen von Zweifeln oder gar öffentlichem Widerspruch ist nichts bekannt. Auch die Reichskriegertage wurden – so kann man in zeitgenössischen Berichten lesen – von der Bevölkerung durchaus mitgefeiert.
Und wenn ein kurhessischer evangelischer Pfarrer, der ein wichtiger Vertreter der Bekennenden Kirche war, seine Predigtsammlung 1940 mit dem Hinweis „Am Tag der Niederwerfung Frankreichs“ veröffentlicht, dann zeigt dies, wie weit in die bürgerliche Gesellschaft der Region hinein die Kriegszustimmung reichte.
Diejenigen, die warnten „Wer Hitler wählt, wählt Krieg“, waren schon vor 1933 in der Minderheit. Und diejenigen, die sich bis 1939 den Kriegsvorbereitungen entgegenstellten, waren eine noch kleinere Gruppe. Aber sie standen auf der richtigen Seite der Geschichte. An sie gilt es am heutigen Antikriegstag zu erinnern. Und ihren Beispielen folgend müssen wir heute – unter viel einfacheren Bedingungen, wo wir nicht um unsere Freiheit, Gesundheit oder gar Leben fürchten müssen – uns in aller Deutlichkeit gegen Kriegspolitik, Konfliktverschärfung durch Rüstungsexporte, militärische Konfliktlösungen und Rassenhass, der zu Gewalt auch im Inneren unseres Landes führt, wehren.
Damals wurden unter dem Schlagwort „Volksgemeinschaft“ alle so genannten „Gemeinschaftsfremden“ ausgegrenzt, drangsaliert und verfolgt. Heute glaubt ein rassistischer Mob – wie wir in den vergangenen Tagen in Chemnitz, aber nicht nur dort, erleben mussten – „Fremden“ auch ganz gewalttätig erklären zu können, „wem die Stadt gehört“.
Daher bedeutet Friedensarbeit heute – nach meiner Überzeugung – auch, solchen rassistischen Ungeist deutlich in die Schranken zu weisen – auf der Straße, in den Betrieben, an den Stammtischen, in den Leserbriefspalten oder im Alltag. Dazu wünsche ich uns allen genügend Kraft und Mut – das ist meine Botschaft zum Antikriegstag 2018.