Zwangsarbeiter in Kassel

16. März 2020

„Wir haben morgens immer die Kolonnen gehört, wenn die Zwangsarbeiter vom Lager Möncheberg durch unsere Straße zogen. Manchmal bin ich an das Fenster gegangen. Dann habe ich diese ärmlichen Gestalten gesehen“, berichtet eine Kasselerin, die in der Nordstadt lebte. Im Kriegswinter 1944/45 gehörten ausländischen Zwangsarbeiter zum alltäglichen Bild dieser Stadt.

Bereits im März 1940 kamen die ersten ausländischen Arbeiter nach Kassel. Die Henschel-Werke hatten dringend Arbeitskräfte angefordert, um die Kriegsproduktion aufrechterhalten zu können. 1943 machte der Anteil der ausländischen Arbeiter mit 13.000 weit mehr als die Hälfte der Belegschaft aus. In Frankreich und Belgien wurden sie anfangs angeworben, später – in den Niederlanden, in Polen und der Sowjetunion – wurden Männer und Frauen zwangsausgehoben. Die “Ostarbeiter“ standen auf der untersten Stufe der Hierarchie. Sie bekamen den geringsten Lohn, oftmals überhaupt keinen, ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen unterschieden sich in negativer Hinsicht deutlich von den West-arbeitern. Rekrutiert wurden sie auch aus den Kriegsgefangenenlagern, besonders dem STALAG IX A in Ziegenhain. 1943 kamen noch italienische Militärinternierte hinzu.

Eingesetzt wurden sie in mehr als 60 Kasseler Betrieben, vor allem in den großen Rüstungswerken, wie z.B. bei Fieseler, Henschel & Sohn und Henschel Flugmotorenbau, in der Spinnfaser AG, bei Wegmann und Crede, aber auch beim Autohaus Opel, der Deutschen Arbeits-front, der Kasseler Verkehrsgesellschaft, der Reichsbahn und in der Landwirtschaft. Ab Oktober 1943 wurden sie auch bei der Trümmerbeseitigung nach den Bombardements eingesetzt.

Ihr Leben bestand faktisch nur aus Arbeit. Täglich, außer sonntags, mussten sie 10-12 Stunden arbeiten. Bei Henschel wurde „von 7-18 Uhr mit 15 Minuten Frühstückspause und etwa einer Stunde Mittag“ gearbeitet. Als ungelernte Arbeitskräfte wurden sie in körperlich besonders anstrengenden Bereichen eingesetzt. Wer die geforderte Leistung nicht schaffte, lief Gefahr, ins Arbeitserziehungslager Breitenau (AEL) verbracht zu werden.

Trotz harter Arbeit war die Ernährung katastrophal. Sie war so schlecht, dass sich die Geschäftsleitung von Fieseler über die „Unterernährung der Arbeitskräfte“ beschwerte. Doch blieb es bei einer Ration von etwa 2.200 Kalorien pro Tag für Schwerarbeiter. Manch einer überlebte nur, weil andere Arbeiter Solidarität übten. Frau B., die bei Wegmann arbeitete, sah bei den sowjetischen Zwangsarbeitern „die kärglichen Mahlzeiten, die kriegten ewig nur Kohlsuppe oder so etwas.“ Und sie berichtet: „Wir hatten denen immer mal Brot mitgenommen, von unserem, wo wir selber nicht so viel hatten.“

Die Zwangsarbeiter waren über ganz Kassel verstreut. In über 200 Lagern und Unterkünften von Bettenhausen bis Wolfsanger waren 1944 die über 30.000 Zwangsarbeiter untergebracht. Die Lager wurden von deutschen Zivilbeschäftigten geleitet, die sich jedoch – im nationalsozialistischen Sinne – “vorbildlich“ für die Ordnung in den Lagern einsetzten. Es herrschte ein Regiment, wie unter SS-Bedingungen. Die größten Lager waren die Möncheberger Gewerkschaft, Holländische Straße/Struthbachweg, General Scheffer Straße (heute: Damaschke-Straße), Nürnberger Straße und das Wohnlager Mattenberg.

Zwangsarbeiter galten als “Menschen 2.Klasse“ und jeder Kontakt zwischen Deutschen und Ausländern wurde untersagt. Die “Kurhessische Landeszeitung“ warnte daher die Leser unter der Überschrift: „Keine Gemeinschaft mit Volksfremden“ vor jedem menschlichen Umgang mit Polen. Wer sich nicht „auf Distanz“ zu den Ostarbeitern hielt wurde als Deutscher bzw. als Deutsche nur verwarnt. Die Ausländerinnen jedoch kamen ins KZ, die Ausländer wurden hingerichtet.

Besonders wegen ungenügender Arbeitsleistung wurden Ausländer terrorisiert. Im Lager Möncheberger Gewerkschaft gab es ein eigenes Gestapo-Straflager. Wer sich davon nicht beeindruckt zeigte, konnte nach Breitenau überführt werden oder direkt ins KZ Buchenwald. Mehrfach wurden in Kassel Ausländer hingerichtet. Im Oktober 1943 wurde gemeldet, dass 7 Ausländer gehenkt worden seien. Und im Mai 1944 berichtete das Rüstungskommando Kassel von der Hinrichtung dreier sowjetischer Kriegsgefangener wegen angeblicher Plünderung. Auch im Zuchthaus Wehlheiden wurden Todesurteile gegen ausländische Häftlinge vollstreckt.

Wir gedenken der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz

27. Januar 2020

Am Montag, den 27. Januar 2020 versammelten sich auf Einladung des „Offenen Antifaschistischen Treffen“ und der VVN-BdA Kassel über 100 Menschen unterschiedlicher Generationen zu einer öffentlichen Gedenkkundgebung am Aschrott-Brunnen am Kasseler Rathaus. Für die VVN-BdA sprach Bundessprecher Dr. Ulrich Schneider:

 

Wir erinnern heute, am 27. Januar, an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz vor 75 Jahren durch die Rote Armee. Genau wie Auschwitz eine singuläre Bedeutung als Konzentrations- und Vernichtungslagers besitzt, so war auch dessen Befreiung ein Symbol für das erkennbare Ende der faschistischen Herrschaft.

Was war Auschwitz?

Ich möchte am Anfang wenige Stichworte zur Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz voranstellen:

Errichtet wurde das Lager im Juni 1940 für polnische politische Gegner, darunter zahlreiche Priester und Intellektuelle.

Bereits seit Frühjahr 1941 war es – in Vorbereitung auf den generalstabsmäßig geplanten Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 – als zentrales Lager für sowjetische Kriegsgefangene vorgesehen. In Auschwitz-Birkenau sollten 100.000 Kriegsgefangene zusammengetrieben werden.

Doch Birkenau wurde nicht als Kriegsgefangenenlager gebraucht, sondern in der Wannsee-Konferenz als ein zentraler Ort der Massenvernichtung vorgesehen, so dass dort die Gaskammern und Krematorien errichtet wurden.

Und wir haben einen dritten Bereich: Auschwitz-Monowitz als KZ der IG Farben, wo im Interesse der Kriegsproduktion und der Profitmaximierung „Vernichtung durch Arbeit“ betrieben wurde.

Unvorstellbar ist die zahlenmäßige Dimension. Wir wissen heute, dass 1,3 Mio. Menschen in Auschwitz waren, von denen 1,1 Mio. ermordet wurden. Etwa 900.000 Menschen, Frauen und Männer, wurden direkt zur Vernichtung getrieben, nur 400.000 Häftlinge wurden registriert, die Mehrheit von ihnen jüdische Menschen, etwa 150.000 Polen, 28.000 Sinti und Roma, 12-15.000 sowjetische Kriegsgefangene sowie knapp 30.000 Menschen aus allen anderen okkupierte Ländern.

Am 27. Januar 1945 erreichten die sowjetischen Truppen der 60. Armee der I. Ukrainischen Front das Lager Monowitz. Einheiten der Waffen-SS und der Wehrmacht leisteten noch erbitterten militärischen Widerstand, so dass über 230 sowjetische Soldaten bei der Befreiung von Auschwitz ihr Leben ließen. Im Laufe des Tages stießen die Soldaten der Roten Armee nach Auschwitz und Birkenau vor. Beide Lagerteile wurden gegen 15:00 h befreit. Etwa 7.000 Häftlinge, die aus der Sicht der Faschisten nicht mehr transportfähig waren, erlebten die Befreiung im Lager, mehrere 10.000 Häftlinge waren in den Tagen zuvor noch auf Todesmärsche geschickt worden.

Anlässlich dieses Gedenktages stellen wir uns die Frage:

Was bedeutet Auschwitz heute für uns?

Ich möchte sie beantworten ausgehend von Gedanken, die der Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees Henri Goldberg aus Belgien zusammengetragen hat.

Auschwitz verkörpert mehr als jeder andere Ort in Europa alle Verbrechen, die Hitler-Deutschland begangen hat: die Versklavung von Menschen und Nationen, Deportationen, Zwangsarbeit, Prügel, Folter, Demütigung, Hunger und natürlich die Vernichtung von Juden und Sinti und Roma. Im Laufe der Jahre ist es zu dem Ort geworden, der all diese Verbrechen kristallisiert.

Auschwitz war in diesem Sinne ein Kulminationspunkt des jahrhundertealten Antisemitismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern. Wurde dieser Antisemitismus anfangs vor allem religiös legitimiert, verband er sich später mit einer „Sündenbock“-Vorstellung, die ebenfalls die Gruppe der Sinti und Roma erfasste. Beiden Gruppen wurden alle nur erdenklichen Schlechtigkeiten unterstellt, die nur durch Ausrottung beseitigt werden könnten. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurde dieser religiöse Antisemitismus rassistisch unterfüttert und steigerte sich von „Die Juden sind unser Unglück“ zur öffentlich propagierten Vernichtung von jüdischen Menschen, Sinti und Roma und allen anderen, die als „Untermenschen“ nicht in die nazistische „Volksgemeinschaft“ passten. Doch Auschwitz ist nicht nur ein ideologischer Kulminationspunkt dieses Rassismus, sondern wurde grausame Realität der rassistisch begründeten Massenvernichtung.

Aber die negative evokative Kraft von Auschwitz geht über diese Fakten hinaus, so schrecklich sie auch sein mögen. Der Name Auschwitz hat etwas Universales in sich. Auschwitz ist zu einem sichtbaren Leuchtfeuer geworden, das die Verweigerung von Leben, Respekt und Toleranz verkörpert. Es richtet sich an jeden von uns und verpflichtet uns zur Selbstbeobachtung und zur Frage nach der menschlichen Natur. Es erinnert uns daran, dass Bildung und Kultur angesichts der Barbarei und des kriminellsten Verhaltens keine unüberwindlichen Bollwerke sind. Es erinnert uns daran, was gewöhnliche Menschen anderen gewöhnlichen Menschen antun können.

Die Überlebenden von Auschwitz und der anderen Lager und Haftstätten bildeten nach ihrer Heimkehr ein Netzwerk, um Kameraden in Not, den Witwen und Angehörigen zu helfen. Aber sie sprachen nicht über ihre Leidensgeschichte, weil die Menschen ihnen nicht glauben konnten. Es war so, dass ihre Erfahrungen über alle Vorstellungen hinausgingen. Paul Baeten, ein siebzehnjähriger belgischer Widerstandskämpfer, kein Jude, kehrte lebend aus dem Lager zurück. Zurück in der Schule berichtete er seinen Mitschülern, was er erlebt hatte. Seine Mutter forderte ihn auf, nicht weiter darüber zu berichten, weil man ihm nicht glaubte. Die Menschen hielten ihn für verrückt und er war in der Gefahr, eingewiesen zu werden. Wie könnten nun Menschen auf die Zeugenberichte von jüdischen Verfolgten reagieren, deren einzige Bestimmung es – im Blick der Faschisten – war, im Rauch der Verbrennungsöfen zu enden?

Als aber Anfang der 1970er Jahre Holocaust-Leugner ihre schreckliche Arbeit begannen und behaupteten, dass es niemals Nazi-Gaskammern gegeben habe, konnten die Überlebenden von Auschwitz nicht länger schweigen. Sie begannen, Zeugnis abzulegen über ihre Erlebnisse in den Lagern. Die Ergebnisse dieser Arbeit waren wichtig und beeindruckend. Sie führen dazu, dass sich immer mehr Menschen mit der Geschichte des Holocaust und der faschistischen Vernichtungslager beschäftigen.

Doch wir stehen heute vor einem Problem:

Die Zeit der Zeitzeugen ist fast vorbei und bald werden nur noch die Orte als Zeugen übrig bleiben. Und wir müssen darüber nachdenken, wie kann die Würde des Ortes gewahrt bleiben, wenn Tausende von täglichen Besuchern Auschwitz aufsuchen? Wie kann man einem solchen Besuch einen Sinn geben, der mehr ist, als die Besichtigung eines interessanten touristischen Ziels?

Der Umgang mit Auschwitz ist heute unklarer geworden. Ist es eine Gedenkstätte, eine historische Stätte, ein Museum oder ein Friedhof?

Darf das, was dort während des Krieges geschah, all diese schlimmen Lebenserfahrungen und zerstörten Familien, zu einer Konkurrenz des Gedenkens zwischen nationalen, politischen oder religiösen Perspektiven gemacht werden? Steht das nicht im völligen Widerspruch zu dem, was der Ort bedeutet?

Als Dachau im April 1945 befreit wurde, war die Journalistin Martha Gellhorn gemeinsam mit den amerikanischen Truppen anwesend. Erschrocken über das, was sie sah, schrieb sie einen eindrucksvollen, sehr menschlichen Text, in dem sie zu dem Schluss kam: „Denn dieser Krieg wurde sicherlich geführt, um Dachau und alle anderen Orte wie Dachau und alles, was Dachau repräsentiert, abzuschaffen und für immer abzuschaffen.“ Ist das nicht der Zweck aller Gedächtnisarbeit im Nazi-Konzentrationslager-Universum?

Sie hätte die gleichen Worte verwenden können, wenn sie in Sachsenhausen, Bergen Belsen, Mauthausen, Dora, Groß-Rosen… und natürlich in Auschwitz gewesen wäre, wo Sklavenarbeit und wahrscheinlicher Tod im Lager oder in der damit verbundenen industriellen Infrastruktur mit dem sicheren und sofortigen Tod in den Gaskammern vermischt wurden. Wegen dieser Einzigartigkeit, der Tatsache, dass Auschwitz sowohl ein Konzentrationslager als auch ein Vernichtungslager war, verkörpert es die Verbrechen der Nazis in einem solchen Ausmaß.

Der Philosoph Theodor W. Adorno formulierte Mitte der 1960er Jahre als Reaktion auf diese Erfahrung in seinem Aufsatz „Erziehung nach Auschwitz“ seinen berühmten pädagogischen Imperativ: „Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, dass ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. Ich kann nicht verstehen, dass man mit ihr bis heute so wenig sich abgegeben hat. Sie zu begründen hätte etwas Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug.“

Er formulierte diese Aussage vor dem Hintergrund der Berichte über den Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963 bis 1965. Doch wie kann ein solcher Anspruch Wirklichkeit werden, wenn die gesellschaftliche Erinnerung verblasst? Und daher gilt es immer wieder neu darüber nachzudenken, wie dieser Anspruch mit Leben erfüllt werden kann.

Über die Erinnerungsarbeit hinaus zwingt uns Auschwitz zu philosophischen und anthropologischen Reflexionen. Unter dem, was wesentlich ist und mit den jüngeren Generationen weiterentwickelt werden muss, gibt es das grundlegende Bewusstsein für Verantwortung und die Natur des Menschen. Die schematische Aufteilung der Hölle im Konzentrationslager zwischen menschlichen Opfern und unmenschlichen Henkern lässt uns nicht verstehen und beschreiben, was wirklich passiert ist. Schlimmer noch, es verhindert jede reflexive Arbeit. Wir wissen, dass selbst Häftlinge anderen Häftlingen etwas angetan haben. Es ist auch bekannt, dass die SS-Leute, die zu den schlimmsten Taten im Lager fähig waren, liebevolle Ehemänner und Väter sein konnten. Was ist Normalität, Passivität, Unterwerfung, Mut, Gehorsam, Nützlichkeit usw.? Primo Levi stellte diese Fragen in einem Satz: „Es gibt Monster, aber sie sind zu wenige, um wirklich gefährlich zu sein; die gefährlicheren sind gewöhnliche Menschen (….)“.

Henri Goldbergs Schlussfolgerungen sind: „Wir haben es in der Auseinandersetzung über Auschwitz mit universellen und zeitlosen Problemen zu tun, die direkt angegangen werden müssen. Die Frage ist, wie.“

Was ist heute zu tun?

Auf diese Abschlussfrage hat Esther Bejarano, Überlebende der Konzentrationslager Auschwitz und Ravensbrück, in einem Brief an den Bundespräsidenten, an die Bundeskanzlerin und die Mitglieder des Bundestages ihre Antworten gegeben. Sie hat darin sechs Forderungen gegenüber den Regierenden und allen, die aus der Geschichte lernen wollen, formulierte. Sie schreibt:

Es ist für uns Überlebende unerträglich, wenn heute wieder Naziparolen gebrüllt werden, wenn Menschen durch die Straßen gejagt und bedroht werden, wenn Todeslisten kursieren. Wir wollen uns nicht gewöhnen an Meldungen über antisemitische, rassistische und menschenfeindliche Attacken in Berlin und anderswo, in Halle, wo nur stabile Türen die jüdische Gemeinde schützten, aber zwei Menschen ermordet wurden.

 Was können wir tun?

Ich will, dass wir alle aufstehen, wenn Jüdinnen und Juden, wenn Roma oder Sinti, wenn Geflüchtete, wenn Menschen rassistisch beleidigt oder angegriffen werden!

Ich will, dass ein lautes „Nein“ gesagt wird zu Kriegen, zum Waffenhandel. Wer den letzten Krieg vergisst, der bereitet schon den nächsten vor.

Ich will, dass wir gegen die Ausbeutung der Menschen und unseres Planeten kämpfen, Hilfesuchende solidarisch unterstützen und Geflüchtete aus Seenot retten. Eine Gesellschaft muss sich messen lassen an ihrem Umgang mit den Schwächsten.

Ich fordere entschlossenes Handeln gegen das Treiben der Neonazis, denn trotz Grundgesetz und alledem konnten Abgeordnete einer neurechten Partei vom NS als „Vogelschiss in deutscher Geschichte“ und vom Holocaust-Gedenkort in Berlin als „Denkmal der Schande“ sprechen, konnte der NSU ein Jahrzehnt lang ungestört morden und die Neonazi-Gruppe „Combat 18“ frei agieren.

Ich fordere, dass die Diffamierung von Menschen und Organisationen aufhört, die entschlossen gegen rechts handeln. Was ist gemeinnütziger als Antifaschismus? Es ist auch unerträglich, wenn ein paar Antifa-Aufkleber in Schulen Anlass für Denunziationen über Petz-Portale von neurechten Parteien sind. Niemand sollte für antifaschistisches Handeln, für gemeinsame Aktionen gegen den Hass, gegen alte und neue Nazis diskreditiert und verfolgt werden!

Ich fordere: Der 8. Mai muss ein Feiertag werden! Ein Tag, an dem die Befreiung der Menschheit vom NS-Regime gefeiert werden kann. Das ist überfällig seit sieben Jahrzehnten. Und hilft vielleicht, endlich zu begreifen, dass der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung war, der Niederschlagung des NS-Regimes. Wie viele andere aus den Konzentrationslagern wurde auch ich auf den Todesmarsch getrieben. Erst Anfang Mai wurden wir von amerikanischen und russischen Soldaten befreit. Am 8. Mai wäre dann Gelegenheit, über die großen Hoffnungen der Menschheit nachzudenken: Über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und Schwesterlichkeit.

Ich kann mich diesen Forderungen von Esther Bejarano in jeder Form anschließen.

Zum letzten Punkt eine aktuelle Ergänzung:

Heute Nachmittag wurden in Wiesbaden dem hessischen Ministerpräsidenten Bouffier und – mit Ausnahme der AfD – allen Fraktionen im hessischen Landtag ein gemeinsamer Brief des DGB Hessen-Thüringen und der hessischen VVN-BdA übergeben, wo genau diese Forderung – den 8. Mai auch in Hessen zum Feiertag zu erklären – erhoben wird.

Wir sind gespannt auf die politischen Antworten.

Kundgebung zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

20. Januar 2020

Vor 75 Jahren, am 27. Januar 1945, befreiten sowjetische Truppen der 60. Armee der I. Ukrainischen Front unter dem Oberkommandierender Marschall I.S. Konew das Vernichtungslager Auschwitz.

Auschwitz steht bis heute als Symbol für die unfassbare Monstrosität der faschistischen Vernichtungspolitik. In das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz wurden vom Sommer 1940 bis Januar 1945 über 1,3 Mio. Menschen aus ganz Europa, Juden, Sinti und Roma, politische Gegner und andere Ausgegrenzte verschleppt, mindestens 1,1 Mio. wurden in den Gaskammern, durch Erschießungen oder durch „Vernichtung durch Arbeit“ für den IG Farben Konzern und andere Rüstungsbetriebe ermordet.

1996 erklärte der damalige Bundespräsident Herzog den 27. Januar zum Gedenktag für alle Opfer des Nationalsozialismus. Seit über einem Jahrzehnt wird – auf Beschluss der Vereinten Nationen – dieses Datum auch als Internationaler Gedenktag für die Opfer des Holocaust begangen.

In Kassel finden aus diesem Anlass verschiedene Gedenkveranstaltungen in Schulen, der Gedenkstätte Breitenau und in der Lutherkirche statt. Das „Offene Antifaschistische Treffen“ (OAT) und die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) Kassel wollen dazu auch ein öffentlich sichtbares Gedenken organisieren.

Die Erinnerung an die historischen Ereignisse verpflichtet uns heute, gemeinsam aktiv gegen Neofaschismus, Rassismus und Ausgrenzung einzutreten. Wir sollten gemeinsam zeigen, dass in dieser Stadt kein Platz für Antisemitismus und Rassismus ist.

Wir gedenken der Opfer des Faschismus. 75 Jahre sind vergangen, doch nichts soll jemals vergessen werden.

Wir laden gemeinsam ein zu einer

Gedenkkundgebung

Ort: neben dem Aschrottbrunnen am Rathaus

Zeit: 27. Januar 2020, um 16:30 h

 

Was ist gemeinnützig? Offener Brief von Esther Bejarano an Finanzminister Scholz

27. November 2019

Angesichts der Angriffe auf die VVN-BdA durch die Aberkennung der Gemeinnützigkeit hat die Überlebende des vernichtungslagers Auschwitz und Ehrenvorsitzende der VVN-BdA nachfolgenden Brief an Bundesfinanzminister Olaf Scholz geschrieben:

Sehr geehrter Herr Minister Scholz,

seit 2008 bin ich die Ehrenvorsitzende der VVN–BdA, der gemeinnützigen Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten, gegründet 1947 von Überlebenden der Konzentrationslager und NS-Verfolgten. Die Arbeit der Antifa, die Arbeit antifaschistischer Vereinigungen ist heute – immer noch – bitter nötig. Für uns Überlebende ist es unerträglich, wenn heute wieder Naziparolen gebrüllt, wenn jüdische Menschen und Synagogen angegriffen werden, wenn Menschen durch die Straßen gejagt und bedroht werden, wenn Todeslisten kursieren und extreme Rechte nicht mal mehr vor Angriffen gegen Vertreter des Staates zurückschrecken.

Wohin steuert die Bundesrepublik?
Das Haus brennt – und Sie sperren die Feuerwehr aus!, wollen der größten und ältesten antifaschistischen Vereinigung im Land die Arbeit unmöglich machen? Diese Abwertung unserer Arbeit ist eine schwere Kränkung für uns alle. „Die Bundesrepublik ist ein anderes, besseres Deutschland geworden“, hatten mir Freunde versichert, bevor ich vor fast 60 Jahren mit meiner Familie aus Israel nach Deutschland zurückgekehrt bin. Alten und neuen Nazis bin ich hier trotzdem begegnet.
Aber hier habe ich verlässliche Freunde gefunden, Menschen, die im Widerstand gegen den NS gekämpft haben, die Antifaschistinnen und Antifaschisten. Nur ihnen konnte ich vertrauen.

Wir Überlebende der Shoah sind die unbequemen Mahner, aber wir haben unsere Hoffnung auf eine bessere und friedliche Welt nicht verloren. Dafür brauchen wir und die vielen, die denken wie wir, Hilfe! Wir brauchen Organisationen, die diese Arbeit unterstützen und koordinieren.

Nie habe ich mir vorstellen können, dass die Gemeinnützigkeit unserer Arbeit angezweifelt oder uns abgesprochen werden könnte! Dass ich das heute erleben muss!
Haben diejenigen schon gewonnen, die die Geschichte unseres Landes verfälschen wollen, die sie umschreiben und überschreiben wollen? Die von Gedenkstätten ‚als Denkmal der Schande‘ sprechen und den NS-Staat und seine Mordmaschine als ‚Vogelschiss in deutscher Geschichte‘ bezeichnen?
In den vergangenen Jahrzehnten habe ich viele Auszeichnungen und Ehrungen erhalten, jetzt gerade wieder vom Hamburger Senat eine Ehrendenkmünze in Gold. Mein zweites Bundesverdienstkreuz, das Große, haben Sie mir im Jahr 2012 persönlich feierlich über-reicht, eine Ehrung für hervorragende Verdienste um das Gemeinwohl, hieß es da. 2008 schon hatte der Bundespräsident mir das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse angeheftet. Darüber freue ich mich, denn jede einzelne Ehrung steht für Anerkennung meiner – unserer – Arbeit gegen das Vergessen, für ein „Nie wieder Krieg – nie wieder Faschismus“, für unseren Kampf gegen alte und neue Nazis.

Wer aber Medaillen an Shoah-Überlebende vergibt, übernimmt auch eine Verpflichtung. Eine Verpflichtung für das gemeinsame NIE WIEDER, das unserer Arbeit zugrunde liegt.
Und nun frage ich Sie:
Was kann gemeinnütziger sein, als diesen Kampf zu führen?
Entscheidet hierzulande tatsächlich eine Steuerbehörde über die Existenzmöglichkeit einer Vereinigung von Überlebenden der Naziverbrechen?
Als zuständiger Minister der Finanzen fordere ich Sie auf, alles zu tun, um diese unsäg-liche, ungerechte Entscheidung der Aberkennung der Gemeinnützigkeit der Arbeit der VVN–BdA rückgängig zu machen und entsprechende Gesetzesänderungen vorzuschlagen.
Wir Überlebenden haben einen Auftrag zu erfüllen, der uns von den Millionen in den Konzentrationslagern und NS-Gefängnissen Ermordeten und Gequälten erteilt wurde. Dabei helfen uns viele Freundinnen und Freunde, die Antifaschistinnen und Antifaschisten – aus Liebe zur Menschheit! Lassen Sie nicht zu, dass diese Arbeit durch zusätzliche Steuerbelastungen noch weiter erschwert wird.

Mit freundlichen Grüßen
Esther Bejarano
Vorsitzende
Auschwitz-Komitee in der Bundesrepublik Deutschland e.V.

 

Die beste Antwort auf diese Angriffe: Antifaschismus stärken – Mitglied werden in der VVN-BdA.

 

7. Nov. 2019: Gedenkgang zum 81. Jahrestag der Reichspogromnacht in Kassel

25. Oktober 2019

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Wie in den letzten Jahren erinnern wir mit dieser öffentlichen Aktion an die antisemitischen Ausschreitungen vor 81 Jahren vor den Augen der Menschen dieser Stadt. In diesem Jahr hat das Gedenken durch den antisemitischen Überfall auf die Synagoge in Halle/S. eine zusätzliche Bedeutung. Die Erinnerung an die historischen Ereignisse verpflichtet uns heute, gemeinsam aktiv gegen Neofaschismus, Rassismus und Ausgrenzung einzutreten.

Der Anschlag von Halle/ S. zeigt: Antisemitismus tötet! Im Gedenken an die Opfer der Kasseler Pogromnacht: In dieser Stadt ist kein Platz für Antisemitismus und Rassismus!

Mit dem Gedenkgang soll durch eine Verortung von Geschichte die Erinnerung an Verfolgung und faschistischen Terror für heutige Generationen lebendig gehalten und gleichzeitig ein Signal gegen Neofaschismus und Antisemitismus heute gesetzt werden. Bei diesem antifaschistischen Stadtrundgang werden historische Orte der antisemitischen Verfolgung und Gedenkorte gegen Ausgrenzung aufgesucht.

Gedenkkundgebung und Mahngang

Von der ehemaligen Synagoge zum Aschrott-Brunnen (Rathaus)

Donnerstag, den 7.November 2019,

Beginn: 16.30 Uhr

Treffpunkt: Gedenktafel für die ehemalige Synagoge,Untere Königstraße (gegenüber Hauptpost) anschließend Mahngang auf den Spuren der Ausgrenzung, Verfolgung und Deportation (mit historischen Erläuterungen)

Einladungsflugblatt zum Ausdruck: Flugblatt7-nov19

Halle/S.: Rassismus tötet!

10. Oktober 2019

Am Mittwoch, den 9. Oktober 2019, haben ein oder mehrere Männer in Halle/Saale rassistisch motivierte Anschläge verübt. Begonnen hatten der bzw. die Täter an der Synagoge in der Hallenser Innenstadt, deren Tür jedoch dem mit einer Maschinenpistole vorgetragenen Angriff standhielt. Am jüdischen Friedhof wurde die erste Person getötet. Anschließend schossen der bzw. die Täter an einer Döner-Imbiss-Bude auf eine weitere Person. Zwei weitere Personen wurden mit Schussverletzungen in die Universitätsklinik eingeliefert. Ein Verdächtiger – laut Medien der 27jährige Neonazi Stefan Balliert – wurde festgenommen. Die Bundesanwaltschaft geht von einem extrem rechten Tatmotiv aus. Der Täter habe ein Video von seinem Überfall gedreht. Das erinnere an das Vorgehen des rassistischen Mörders vom neuseeländischen Christchurch.

Seit längerer Zeit müssen wir beobachten, dass die neofaschistische Szene sich zunehmend bewaffnet und gewaltbereit agiert. Der Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke war dafür ein deutliches Zeichen. Nun scheinen erneut Neonazis ihre Gewaltbereitschaft unter Beweis gestellt zu haben. Wenn die Bundesanwaltschaft ein solches Verbrechen nun unter „Amokgefahr“ kategorisiert, verharmlost sie die von extremen Rechten ausgehenden Gefahren. Auch der Hinweis auf einen „Einzeltäter“ soll von dieser Gefahr ablenken. Es war erkennbar eine geplante Aktion, die am höchsten jüdischen Feiertag sich gegen jüdische Bürger unseres Landes und im nächsten Schritt gegen alle mit „Fremden“ verbundenen Menschen richtete. Solche Morde sind geplant und bewusst vorbereitet.

Wie schon bei dem Angeklagten Stefan Ernst im Fall Lübcke scheinen auch hier die Sicherheitsorgane dieser gewaltbereiten neofaschistischen Szene viel zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt zu haben. Ob der Anschlag dadurch hätte verhindert werden können, steht nicht zur Debatte. Die Freigiebigkeit der Behörden bei der Ausgabe von Waffenbesitzkarten für extreme Rechte muss auch in diesem Falle untersucht werden.

Die VVN-BdA erklärt ihr tiefes Mitgefühl gegenüber allen Opfern der Anschläge und ihren Familienangehörigen. Für uns ist eine zentrale Konsequenz: Keine Toleranz für Nazis! Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen! Rassismus und Antisemitismus töten – dies zeigen die Vorgänge in Halle/S. in aller Deutlichkeit.

Erklärung des Bundessprecherkreises der VVN-BdA

80 Jahre Antikriegstag: Ansprache zum 1. September 2019

1. September 2019

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Der Auftakt der Gedenkveranstaltung in Kassel fand im Ehrenmal für die Opfer des Faschismus statt. Dr. Ulrich Schneider hielt dort für die VVN-BdA Kassel nachfolgende Ansprache:

Ihr alle wisst, dass vor 80 Jahren, am 1.September 1939 mit der Behauptung: „Seit 5 Uhr 45 wird zurückgeschossen“ der Zweite Weltkrieg mit einer Propagandalüge begonnen wurde. Abgesehen davon, dass bereits eine Stunde früher die faschistischen Truppen ihre Kampfhandlungen gegen das polnische Territorium begonnen hatten, waren alle angeführten Behauptungen, wie „polnische Grenzverletzungen“ oder der angebliche Überfall auf den Sender Gleiwitz inszenierte Propagandaaktionen der deutschen Faschisten. Besonders zynisch war es, dass bei der Gleiwitz-Aktion KZ-Häftlinge in polnische Uniform gesteckt und vor Ort ermordet wurden, um eine angebliche Bedrohung des Deutschen Reiches zu dokumentieren.

Interessant an diesem Vorgang ist für uns heute eigentlich nur, dass sich der deutsche Faschismus damals gezwungen sah, ein solches propagandistisches Bedrohungsszenario aufzubauen, um die längst geplanten, strategisch und praktisch ausgearbeiteten Schritte der Expansionspolitik gegenüber der eigenen Bevölkerung und der internationalen Öffentlichkeit zu legitimieren.

Und wie langfristig solche Propaganda vorbereitet wurde, zeigt sich in der Geschichte der Stadt Kassel deutlich. Seit 1935 trug die Stadt den faschistischen „Ehrennamen“ „Stadt der Reichskriegertage“ und war damit jährlich Aufmarschplatz für alle Ewig-Gestrigen, die gewillt waren, die Ergebnisse des Ersten Weltkriegs militärisch zu revidieren. Auf dem Friedrichsplatz trafen ehemalige Frontkämpfer in Marschformation zusammen und bekräftigten, dass sie den Versailler Vertrag so schnell wie möglich überwinden wollten.

Noch wenige Monate vor dem Überfall auf Polen, nämlich vom 2. bis 4. Juni 1939 hatte die NSDAP ihren so genannten „1. Großdeutsche Reichskriegertag“ in Kassel inszeniert, fast 300.000 Soldaten aus dem Deutschen Reich, aus Österreich und aus der Henlein-Bewegung im Sudetenland, Veteranen des Ersten Weltkriegs und der neuen Wehrmacht marschierten in der Stadt auf. Hitler ließ es sich nicht nehmen, diese Inszenierung zum Anlass für seinen Auftritt zu suchen.

Seine Propaganda-Rede zielte in diesem Fall besonders gegen Großbritannien, dem er „den Raub deutscher Kolonien“ vorwarf. Selbst wenn bei diesen Gelegenheiten das Wort „Frieden“ öffentlich geäußert wurde, so bedeuteten doch die Forderungen nach „Gleichberechtigung mit England und Frankreich“ nichts anderes als militaristische Machtansprüche gegenüber den Nachbarländern. Auch ausländische Verbündete wie der japanische Botschafter und Militärattachés aus Ungarn und Finnland konnten in Kassel die deutliche Ankündigung deutscher imperialistischer Expansionsziele vernehmen.

Und es blieb bekanntlich nicht bei „starken Worten“. Denn in Kassel befanden sich zentrale Produktionsorte für Rüstungsgüter – genannt seien nur die Militärfahrzeug- und Panzerproduktionen bei Henschel, Bode, Wegmann und Crede sowie das im Krieg errichtete Werk für Henschel Flugmotoren, dem Gebäude des heutigen VW-Werks in Baunatal. Aber auch die Spinnfaser AG und die optischen Werke sowie die Fieseler-Flugzeugwerke am Waldauer Flugplatz produzierten vorrangig für die Kriegsvorbereitung. Zudem war Kassel ein logistisches Zentrum, man könnte auch sagen, ein Drehkreuz der Truppenbewegung und der Transporte von Militärgütern zwischen der West- und Ost oder vom Produktionsort Ruhrgebiet an die verschiedenen Frontabschnitte.

Die Konsequenzen mussten die Menschen in Kassel im Oktober 1943 erleiden, als die Innenstadt während des großen Bombardements weitgehend zerstört wurde.

Aber nicht nur die Produktion und Infrastruktur, auch die Kriegsplanung für den Überfall auf Polen hatte seinen Ort in Kassel. Die militär-strategischen Planungen für den Fall „Weiß“ wurden hier in Kassel umgesetzt, im Oberkommando der Wehrmacht, das seinen Sitz im Generalkommando beim Bahnhof Wilhelmshöhe hatte. Zur unmittelbaren Kriegsvorbereitung hatte man diesen Bau als Zentrale des Heeres Ende der 30er Jahre neu errichten lassen. Im Mai 1938 konnte es bezogen werden und mit seinen 600 Zimmern und sieben großen Sitzungssälen gab es nun genügend Platz für Sandkastenspiele zur Einsatzplanung beim Überfall auf Polen, dem Fall „Weiß“, dem geplanten Überfall auf Frankreich, Belgien und die Niederlande, dem Fall „Grün“, oder zum Einsatz der Heereseinheiten beim Überfall auf die Sowjetunion, dem Fall „Barbarossa“.

Zwei Fakten möchte ich in diesem Zusammenhang besonders hervorheben:
1. Die militär-strategischen Planungen des OKH für den Überfall auf Polen waren bereits am 15. Juni 1939  – also gut 10 Tage nach dem „Großdeutschen Reichskriegertag“ in Kassel – abgeschlossen. Darin waren die beteiligten Militäreinheiten, die Aufmarschgebiete, die geplanten Richtungen des militärischen Vormarsches und der Umgang mit den besetzten polnischen Gebieten und der Zivilbevölkerung bereits festgelegt. Auch das Zeitfenster für den Überfall (Spätsommer 1939) war darin seitens der Obersten Heeresleitung bestätigt. Das einzige, was für den Überfall noch fehlte, war die Festlegung des konkreten Angriffstermins. Es gab in diesen Planungen keine Option der Erfüllung von „Teilforderungen“, wie sie noch im Münchener Diktat im Herbst 1938 gegenüber der CSR mit Unterstützung der britischen und französischen Regierung durchgesetzt wurde. Polen sollte überfallen und besetzt werden.

2. Hitler selbst hat dies in einer Ansprache vor den Oberbefehlshabern der Wehrmacht am 22. August 1939 auf dem Obersalzberg mit folgenden drastischen Worten formuliert: „Ich habe den Befehl gegeben, … dass das Kriegsziel nicht im Erreichen von bestimmten Linien, sondern in der physischen Vernichtung des Gegners besteht. So habe ich, einstweilen nur im Osten, meine Totenkopfverbände bereitgestellt mit dem Befehl, unbarmherzig und mitleidlos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken. Nur so gewinnen wir den Lebensraum, den wir brauchen. … Polen wird entvölkert und mit Deutschen besiedelt.“

Von daher sind alle Behauptungen, die man in den vergangenen Tagen wieder in zahlreichen Medien lesen konnte, dass der Krieg erst mit dem am 23./24. August 1939 geschlossenen deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag, dem so genannten „Hitler-Stalin-Pakt“ möglich geworden sei, eine Geschichtsklitterung, die die Verantwortung für den Überfall den beiden „totalitären“ Staaten zuweisen soll.
Warum es nicht zu einer kollektiven Sicherheitsgarantie der Staaten Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion für Polen kam, ist hinreichend wissenschaftlich erforscht. Diese Erkenntnisse ändern aber nichts an der klaren Aussage, dass für den Überfall auf Polen einzig und allein der deutsche Faschismus in seinem Expansionsdrang die Verantwortung trägt.

Und einen weiteren Gedanken möchte ich im Zusammenhang mit der Kriegsvorbereitung im Generalkommando in Kassel noch aufgreifen. Beteiligt an den Kriegsplanungen waren auch Offiziere, die noch vor wenigen Wochen als „Helden des Widerstandes“ anlässlich des 75.Jahrestages des 20.Juli 1944 geehrt wurden. So wichtig dieses – leider gescheiterte – Attentat von Claus Schenk Graf von Stauffenberg auf Adolf Hitler für die deutsche Geschichte auch ist, es sollte nicht vergessen werden, dass in ihrem militärischen Teil besonders diejenigen daran beteiligt waren, die selbst aktiv an dieser Kriegspolitik mitgewirkt hatten. Erst als die militärische Überlegenheit der alliierten Truppen besonders durch die Bombardierung der deutschen Städte für alle offenkundig wurde, sich die alliierten Truppen beginnend nach Stalingrad vom Osten und mit der Landung in der Normandie vom Westen auf deutsches Territorium zu bewegten, entwickelte sich Skepsis, Hilflosigkeit, jedoch viel zu wenig Widerstand gegen das faschistische Regime.

Aber – darauf möchte ich an diesem Ort, dem Mahnmal für die Opfer des Faschismus, in aller Deutlichkeit hinweisen – es gab im Deutschen Reich schon vorher – auch in der NS-Zeit – Kriegsgegner. Zumeist waren es einfache Frauen und Männer, vorwiegend aus der Arbeiterbewegung, die nicht erst gegen den Krieg kämpften, als er verloren war. Sozialdemokraten und Kommunisten hatten vor 1933 gewarnt: „Wer Hitler wählt, wählt Krieg“. Nun klärten sie unter größtem Risiko der Verfolgung die Bevölkerung über die faschistische Kriegsvorbereitung auf, warnten vor den Folgen der Aufrüstungspolitik und möglicher militärischer Abenteuer.

Als Beispiel für deren Handeln möchte ich aus einem Flugblatt zitieren, das ein „Aktionsausschuss deutscher Sozialdemokraten und Kommunisten“ im Herbst 1939 in Deutschland verbreitete. Darin heißt es: Die Hitler – Regierung habe „planmäßig auf diesen Krieg hingearbeitet! Der Hitlerregierung allein fällt dieser neue Weltkrieg (denn ein solcher wird es werden) zur Last!
Jetzt kann Deutschland nur noch durch das Volk selbst gerettet werden! Ein Sieg Deutschlands ist ausgeschlossen gegen die Übermacht der ganzen übrigen Welt. Die Niederlage und der Zusammenbruch sind unabwendbar. … Daher muss gleich zu Beginn des Krieges das Denken und Handeln jedes verantwortungsvollen Deutschen beseelt sein von dem alle umfassenden Ziel: Sofortigen und schnellsten Schluss mit dem verbrecherischen Hitler-Krieg, der unser Land und Volk zu vernichten droht!“

Auch in Kassel gab es solche Kriegsgegner. Ich möchte nur einige wenige von ihnen nennen, die ich zum Teil noch persönlich kennen lernen durfte: Franz Buda, Willi Belz, Henner Bischoff, Karl Kuba, Max Mayr, Georg Merle, Erna und Willi Paul, Fritz Schmidt, Hans Spill und Willi Walberg.

Sie alle sind Teil einer Tradition, die zu den besten Teilen der Kasseler Geschichte gehört. Sie bewiesen durch ihre Haltung und ihr Handeln, dass Kassel nicht nur die Stadt der Tiger-Panzer und der Fieseler-Flugzeuge, die Stadt der Kriegsplanung und Kriegsvorbereitung war. Es sollte auch ein Anliegen der Friedensbewegung sein, dass deren Andenken nicht vergessen wird.

Und wenn wir anlässlich des Antikriegstages die Losung des Jahres 1945 wiederholen: „Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!“, dann haben wir auch die Verpflichtung uns an die Frauen und Männer zu erinnern, die sich unter Einsatz ihrer Freiheit, ihrer Gesundheit und manchmal auch ihres Lebens dem NS-Regime und dem Krieg widersetzten.

1. September – Antikriegstag in Kassel 2019

14. August 2019

80 Jahre ist es her – Nie wieder Krieg!
1939 – 1. September – 2019
Antikriegstag in Kassel

 

Programm:
10.00 Uhr: Gedenken am Mahnmal für die Opfer des Faschismus,
Rede: Dr. Ulrich Schneider FIR, Rede Rolf Wekeck, Biographie Widerstandskämpfer.
10.40 Uhr: Gedenkgang zur Volkshochschule
11.00 Uhr: Veranstaltung im Saal der VHS (Wilhelmshöher Allee 19-21)
Begrüßung (Kasseler Friedensforum) – ein Chorstück zur Einstimmung –
Rede zum Antikriegstag – Jenny Huschke (DGB Kassel/Nordhessen)
anschließend Kulturprogramm:
Valeska Weber, Schauspielerin – Chor Provocale (Antikriegsprogramm)

Erfolgreicher Protest gegen Neonazis in Kassel

20. Juli 2019

Am 20. Juli haben 15.000 Menschen in Kassel in unterschiedlichen Aktionen gegen den Aufmarsch von 120 Neonazis der Worch-Truppe „Die RECHTE“ demonstriert. Auf einer Auftaktkundgebung am Kulturbahnhof sprachen ein Vertreter der Gewerkschaften der Betriebsratsvorsitzende von Gesundheit Nordhessen, die Vertreterin der jüdischen Gemeinde Esther Hass, die Stadtdekanin der evangischen Kirche Barbara Heinrich und als Vertreter der VVN-BdA Dr. Ulrich Schneider.

Nachfolgend seine Ansprache im Wortlaut:

Liebe Kolleginnen und Kollegen,

wenn ihr heute Morgen an einem öffentlichen Gebäude vorbeigekommen seid, habt ihr die Beflaggung sehen können.

Nein, das war keine Begrüßung für die Dortmunder Neonazis.

Es ist ein Zeichen der Wertschätzung und Erinnerung an die Frauen und Männer des 20. Juli 1944 und den Kreisauer Kreis. Sie hatten versucht, wenn auch erst 5 Minuten vor 12, angesichts der drohenden militärischen Niederlage des deutschen Faschismus die – aus ihrer Sicht – schlimmste Katastrophe für ihr Land abzuwenden, indem sie Hitler mit einem Attentat beseitigen wollten und mit einer neuen Regierung Friedensverhandlungen mit den Westalliierten planten.

Wir wissen heute: Wären sie erfolgreich gewesen, hätte das Millionen Menschen in ganz Europa das Leben gerettet, nicht nur Soldaten, die an der Front ums Leben kamen. Ich denke vielmehr an die Opfer der Deportationszüge in die Vernichtungslager, die Häftlinge in den Konzentrationslagern, die am Ende des Krieges auf Todesmärsche geschickt wurden, die Zivilisten, die im Zuge des Bombenkrieges und bei der faschistischen Rückzugsform „verbrannte Erde“ ihr Leben oder ihre Lebensgrundlage verloren, nicht zu vergessen die Millionen Flüchtlinge, die vor den Schrecken des Krieges ihre Heimat verlassen mussten, eine Erfahrung, mit der wir – auch aufgrund deutscher Außenpolitik – in den vergangenen Jahren erneut leben müssen.

Aus diesem Grunde würdigen wir den Mut und die Tat eines Claus Graf Stauffenberg und der anderen Angehörigen des Militärs, aber auch der zivilen Angehörigen des Kreisauer Kreises, die anschließend wegen Hoch- und Landesverrat angeklagt und hingerichtet wurden.

Es ist völlig unverständlich, wie ein Verwaltungsgericht zu diesem Tag, an dem im ganzen Land zur Erinnerung an die Frauen und Männer des 20. Juli 1944 geflaggt wird, in Festakten im Bendlerblock deren Mut gewürdigt wird, einen neofaschistischen Aufmarsch genehmigen kann, der nichts anderes intendiert, als die Grenzen des „Sagbaren“ im Sinne ihrer faschistischen Weltanschauung auszuweiten.

Wenn das Gericht glaubt, das Verwaltungsrecht sei in diesem Falle nur eine formaljuristische Ebene, um Bürger vor fehlerhaftem Verwaltungshandeln zu schützen und das hohe Gut der Meinungs- und Versammlungsfreiheit zu schützen, dann ignoriert es einen zentralen Entscheidungspunkt, die Intention der Antragsteller.

Es geht einem Christian Worch und seiner Nazigruppen DIE RECHTE nicht um „Meinungsfreiheit“, sondern allein um Freiheit für faschistische Propaganda, wie er in diesem Jahr schon mehrfach unter Beweis gestellt hat.

Erinnert sei an das Plakat der RECHTEN zur Europawahl, auf dem in sprachlicher Analogie zur faschistischen Parole „Die Juden sind unser Unglück“ die Losung „Israel ist unser Unglück“ zu lesen war. Dass das mit der Europawahl nichts zu tun hat, erschließt sich sofort. Auch in diesem Falle wurden Bürgermeister, die diese antisemitischen Provokationen abhängen ließen, per Verwaltungsgericht gezwungen, die Plakate wieder aufhängen zu lassen, da sie durch die „Meinungsfreiheit“ gedeckt seien.

Erinnert sei an die Demonstration in Wuppertal, die die RECHTE am 20. April – ebenfalls vorgeblich als Wahlkampfveranstaltung zur Europawahl – angemeldet hatte. Auch hier genehmigte das Verwaltungsgericht diesen Aufmarsch am Tag von „Führers Geburtstag“, obwohl in früheren Jahren selbst Verwaltungsgerichte neonazistische Aufmärsche an diesem Datum eher untersagt hatten.

Und die nächste Provokation bereitet die Nazigruppe bereits vor. Sie hat zum 9. November in Westfalen einen Aufmarsch in Westfalen angemeldet, bei dem es um „Meinungsfreiheit“ für Holocaust-Leugner gehen soll.

Allein diese Beispiele aus dem Jahre 2019 zeigen – und das hätte auch einem Verwaltungsgericht klar werden können –, dass das Interesse von Worch und Co. nichts mit der Wahrnahme von Grundrechten zu tun hat, sondern allein Versuche zur Erweiterung ihres propagandistischen Handlungsraums darstellen.

Aber wir sollten uns einig sein: Es gibt kein Recht auf Nazipropaganda, denn Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen.

Und wenn Stadtverwaltungen und Verwaltungsgerichte glauben, solche neofaschistischen Provokationen nicht verhindern zu können, dann müssen wir als Bürger dieser Stadt die Verantwortung dafür übernehmen – und die vielen tausend Menschen hier am Kulturbahnhof zeigen, dass sie dazu bereit sind.

Dafür meinen herzlichen Dank.

Es geht nicht um Meinungsfreiheit, sondern um neofaschistische Provokation!

8. Juli 2019

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Stadt Kassel muss Aufmarsch der „Rechten“ am 20. Juli verbieten

Als vor wenigen Tagen die Stadtgesellschaft anlässlich des Mordes am Regierungspräsident Walter Lübcke durch den Neonazi Stephan Ernst auf zwei großen Kundgebungen ihren Protest gegen neofaschistische Gewaltnetzwerke deutlich machte, erklärte die Stadt, dass sie alles dafür tun werde, unsere Region kein Tummelplatz für gewalttätige Rechte sein dürfe. Nun kann die Stadtverwaltung unter Beweis stellen, dass diese Erklärungen nicht nur Worthülsen, sondern tatsächlich ernstgemeint waren, indem sie den Aufmarsch der „Rechten“ untersagen. Die VVN-Bund der Antifaschisten fordert von der Stadt Kassel, die von der Dortmunder Naziorganisation „Die Rechte“ für den 20. Juli 2019 in Kassel geplante Demonstration gerichtsfest zu verbieten.

Von besonderer Perfidie ist zudem der gewählte Termin der Demonstration am 20. Juli des Jahres. „Die Rechte“ wählen bewusst Aufmarschtermine, an denen ihre Kundgebungen als Angriff auf unser demokratisches Geschichtsbild zu verstehen sind. Am 20. Juli erinnern wir an den 75. Jahrestag des gescheiterten Attentats auf Adolf Hitler durch Claus Schenk Graf von Stauffenberg. In Imshausen wird an diesem Tag an den Vertreter des Kreisauer Kreis Adam von Trott zu Solz erinnert. Beide ließen ihr Leben für ein nicht-faschistisches Deutschland.

Wenn an diesem Tag Neonazis in unserer Stadt aufmarschieren wollen, dann muss dies – aus Verantwortung für unsere Demokratie – aktiv verhindert werden. Denn den Anmeldern des Aufmarsches geht es nicht um „Meinungsfreiheit“, sondern rein um Provokation.

Schon im Europawahlkampf provozierte diese Partei mit offen antisemitischen Plakaten „Israel ist unser Unglück“. Dabei waren ihnen die Stimmergebnisse völlig egal, es genügte ihnen, dass sie mit dieser Provokation überregional in den Medien waren und Gerichte ihnen für diesen Antisemitismus sogar Freibriefe ausstellten. In Kassel wollen sie nicht nur das Andenken von Walter Lübcke in den Schmutz ziehen, sondern durch ihren Aufmarsch weitere Freiräume für faschistische Propaganda erstreiten. Dagegen müssen sich die Stadt mit juristischen Mitteln und die Stadtgesellschaft mit zivilgesellschaftlichem Handeln wehren.

Denn es bleibt dabei: „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen!“

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