Der Mord auf dem Friedhof Wehlheiden

25. März 2020

Am Karfreitag 1945 ließ die Gestapo durch ein vierköpfiges Kommando 12 Häftlinge des Zuchthauses auf dem Friedhof Wehlheiden ermorden. Als die Täter nach dem Krieg verhört wurden, redeten sie sich heraus. Einer habe zwar „als Kommandant teilgenommen …, aber persönlich habe ich auf die Verurteilten nicht geschossen.“ Ein anderer erklärte, dass seine Pistole Ladehemmungen gehabt habe. Und auch ein dritter „will dabei nicht mitgeschossen, sondern sich bei den rasch ablaufenden Vorgängen mit Absicht zurückgehalten haben.“ Der vierte musste sich nicht mehr verteidigen. Er war bereits 1947 verstorben.

Was war nun tatsächlich passiert?

Im Zuchthaus Kassel-Wehlheiden unterhielt die Kasseler Gestapo während des Krieges eine eigene Abteilung. Sieben Zellen der Abteilung B4 standen ausschließlich der Gestapo zur Verfügung. Dort lieferte sie Gefangene ein, die teilweise noch verhört werden sollten oder die bereits zur Überstellung an eine andere Haftanstalt bzw. ein Konzentrationslager vorgesehen waren. Zwar war das Zuchthaus für die Verpflegung zuständig, so dass die jeweilige Belegungsstärke an die Verwaltung gemeldet werden musste, die Häftlinge wurden jedoch ohne richterlichen Haftbefehl und ohne Angabe der Personalien eingeliefert. Ende März 1945 befanden sich 74 Gestapohäftlinge in der Abteilung B4.

Als am Gründonnerstag, den 29.März 1945, der Räumungsbefehl für das Zuchthaus Wehlheiden kam und die Strafgefangenen per Zug nach Halle verlegt wurden, verblieben die Gestapohäftlinge in Kassel, da für sie kein Transportbefehl vorlag.

Da selbst „5 Minuten nach 12“ nichts ohne Befehl stattfinden durfte, wurde am nächsten Tag ein Wachmann in die Goetheanlage zum Kasseler Gestapochef Marmon geschickt, um zu erfragen, was mit den Gefangenen geschehen solle. Marmon teilte daraufhin die verbliebenen Häftlinge in zwei Gruppen ein: Die erste Gruppe von etwa 60 sollte aus Kassel herausgebracht werden. Eine zweite Gruppe von 12 Personen sollte ohne Prozess oder Urteil liquidiert werden. Er beauftragte den Kriminalsekretär Kurt Knigge, ein Exekutionskommando zusammenzustellen und die 12 Häftlinge zu erschießen. Knigge wählte daraufhin fünf weitere Beamte für dieses Kommando aus und machte sich mit ihnen auf den Weg.

Dass es selbst in dieser Situation noch möglich war, sich der Beteiligung an einer solchen Mordaktion zu entziehen, berichtet der Historiker Michael Jäger: „Zwei der Beamten erklärten, noch warten und später mit Fahrrädern nachkommen zu wollen. Stattdessen fuhren sie zum Hauptfriedhof und warteten dort zwei Stunden, bevor sie in die Goetheanlagen zurückkehrten. Sie vermieden so ihre Beteiligung an der Erschießung.“

Die anderen marschierten zum Zuchthaus und holten dort die Gruppe der 12 Häftlinge ab. Zu zweien aneinandergefesselt wurden sie durch den Grasweg zum Wehlheider Friedhof gebracht. Dort angekommen wurden sie unverzüglich von den Beamten mit Maschinenpistolen niedergeschossen. Ein Häftling versuchte angesichts des Todes noch zu fliehen, auch er wurde erschossen. Nachdem die Leichen verscharrt worden waren, kehrte das Kommando zurück und Knigge erstattete „Vollzugsmeldung“.

Wer waren die Opfer?

Im Nachhinein wurde von den Tätern behauptet, es habe sich bei der Gruppe der 12 um „Mörder“ und „Plünderer“ gehandelt. Soweit bis heute überhaupt etwas über die Identität der Opfer gesagt werden kann, sind diese Behauptungen falsch. Nur 8 der 12 Namen sind bekannt. Es handelt sich um die Ukrainer Alex Bouch und Krigo Schlachovsi, die Polen Henryk Kdazokowski und Ludwig Ziokowski, den Franzosen Pierre Bourgoise, den Italiener Battista Barrachetti und die beiden Deutschen Peter Steier und Wolfgang Schönfeld.

Das Schicksal von Wolfgang Schönfeld ist besonders tragisch. 1917 in Kassel geboren, erlebte er seit 1933 die gesellschaftliche Ausgrenzung aller jüdischen Bürger am eigenen Leib. 1943 wurde er wegen angeblicher „Rassenschande“ verhaftet und ins KZ Auschwitz deportiert. Im August 1944 gelang ihm die Flucht und er kehrte unerkannt nach Kassel zurück, wo er bis Ende Dezember versteckt lebte. Am 25. Dezember 1944 wurde er jedoch bei einer Kontrolle am Hauptbahnhof von der Polizei verhaftet, der Gestapo übergeben und im Zuchthaus Wehlheiden in der Abteilung B4 inhaftiert. Er, der KZ und Illegalität überlebt hatte, wurde nun – die Befreiung durch die vorrückenden Alliierten vor Augen – noch ermordet.

Das Ende einer Sprengstoff-Fabrik in Hessisch-Lichtenau

23. März 2020

Am 29.März 1945 hörte eine der größten Munitionsfabriken in Deutschland, die Sprengstoffwerke „Friedewald“ bei Hirschhagen, auf zu produzieren. In der Nähe von Kassel, in Hirschhagen bei Hessisch-Lichtenau, befand sich seit 1936/37 – gut getarnt, aber in der Region bekannt – eine der größten Sprengstoff-Produktionsstätten des deutschen Reiches. Auf 233 ha wurden fast 400 Werksgebäude, 2 Kraftwerke, 17km Gleisanlagen und ein weitverzweigtes Straßennetz errichtet.

In der Region selber gab es für ein solches Werk nicht genügend Arbeitskräfte. Daher wurden um Hirschhagen herum 10 Lager bzw. Siedlungen zur Unterbringung neuer Arbeitskräfte geschaffen. Neben den Deutschen, unter ihnen sehr viele dienstverpflichtete Frauen, waren in Hirschhagen Menschen aus 11 europäischen Ländern eingesetzt. Zwangsarbeiter aus Frankreich, Belgien, Holland, Polen, Bulgarien, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion wurden rekrutiert. Als letztes Arbeitsaufgebot wurden am 2.August 1944 1000 ungarische Jüdinnen, die im KZ Auschwitz als arbeitsfähig selektiert waren, nach Hirschhagen gebracht und dort als Frauen-Außenkommando des KZ Buchenwald geführt.

So erreichte die Zahl der Arbeitskräfte in Hirschhagen zeitweilig fast 7500 Personen. Sie arbeiteten im Baubereich (Ausbau und Wiederherstellung der Produktionsanlagen) und in der unmittelbaren Sprengstoffproduktion bzw. -abfüllung. Hergestellt und verfüllt wurden TNT als Sprengstoff in Bomben, Granaten und Tellerminen, Pikrinsäure als Treibmittel für Geschosse und Nitropenta.

Diese Produktion war sehr gesundheitsschädlich. Während den Deutschen Schutzkleidung zur Verfügung gestellt wurde, waren Ostarbeiter und die KZ-Häftlinge meist schutzlos den Giftstoffen ausgeliefert. Blanka Pudler, eine ungarischen Jüdinnen berichtet: Ich „musste den in die Granaten zu füllenden Sprengstoff mit Messingstäbchen sorgfältig rühren, damit eine gleichmäßige Abkühlung erfolgt … Ich habe den bitterlich schmeckenden, ungesunden Dampf einatmen müssen, das hat mich betäubt, und ich bin oft dann zur Besinnung gekommen, als mir der heiße Sprengstoff ins Gesicht spritzte, dadurch wurde mein Gesicht mit Brennwunden voll.“

Auch die Haare nahmen die Chemikalien auf. Eine ältere Helsaerin erinnerte sich auf einer Veranstaltung an die Frauen, die man wegen ihrer gelben Haare „Kanarienvögel“ genannt habe. Morgens und abends, wenn sie nach der 10-12 Stunden Arbeitsschicht in ihre Unterkunft „Vereinshaus“ marschierten, seien sie durch ihr Dorf gekommen.

Doch es gab auch kleine „Lichtblicke“. Blanka Pudler erinnert sich an eine „sehr sympathische deutsche Dienstverpflichtete“: „Sie fühlte für mich großes Mitleid, tröstete mich und half mir, wo sie konnte. Manchmal gab sie mir sogar etwas zum Essen, obwohl ich weiß, dass sie auch nicht viel zum `Beißen‘ hatte.“

Die Produktion selber war ebenfalls sehr gefährlich. Allein durch Unfälle und Explosionen in der Fabrik haben mindestens 185 Menschen ihr Leben verloren. Bei der schwersten Explosion am 31.3.44 wurden 16 Deutsche und 55 ausländische Arbeiter getötet.

Bis zum letzten Augenblick, bis zum Heranrücken der amerikanischen Truppen Anfang April 1945, wurde die Produktion als „kriegsentscheidend“ aufrechterhalten. Eine Abrechnung der „Verwertchemie Hessisch-Lichtenau“ (IG Farben-Tochter) mit der SS belegt, dass die ungarischen Jüdinnen noch vom 1. bis 22.März 1945 152.768 Arbeitsstunden leisteten, für die die SS 55.552 RM kassierte. Die Frauen bekamen selbstverständlich nichts.

Am 29.März wurde das KZ-Außenkommandos aufgelöst und nach Leipzig transportiert und von dort auf „Todesmarsch“ geschickt. Die Frauen, die diesen Marsch überstanden, erlebten erst am 25.April die Befreiung.

Das Ende der Konzentrationslager in Nordhessen

20. März 2020

In und um Kassel gab es bis 1945 neben den über hundert Lagern für Zwangsarbeiter weitere KZ Außenkommandos und Haftstätten. Sie wurden unmittelbar vor dem Heranrücken der amerikanischen Truppen aufgelöst im Frühjahr 1945.

Seit Juli 1943 existierte im Druseltal 85 ein Außenkommando des KZ Buchenwald. Jeweils gut 150 Häftlinge mussten dort Erd- und Bauarbeiten für den Höheren SS- und Polizeiführer Josias Erbprinz zu Waldeck und Pyrmont erledigen. Die eigentliche Baustelle lag in Wilhelmshöhe, Drei Eichen. Die Existenz des Lagers war für die Kasseler Öffentlichkeit durchaus sichtbar. Der Lagerälteste Sepp Schuhbauer erzählte, dass die Häftlinge in Kolonnen auch durch die Stadt getrieben wurden. „In den Ruinen im zerstörten Kassel hatten Häftlinge die noch brauchbaren Heizkörper, Heizkessel, Waschbecken und alles noch Brauchbare aus den Kellern zu sammeln für die Neu- und Umbauten des SS- und Polizeiführers auf der Wilhelmshöhe“, berichtet der ehemalige Häftling Martin Grünwiedl.

Im Gegensatz zur Zivilbevölkerung mussten die Häftlinge bei Bombenangriffen an ihrem Arbeitsplatz bleiben, wie Richard Krauthause berichtet. Ein Pole wurde deshalb durch eine Brandbombe verletzt, Tote waren im Außenkommando Druseltal jedoch nicht zu verzeichnen. Auch ist nur ein Fall bekannt, dass ein ungarischer Häftling namens Nemeth von SS-Leuten zum Krüppel geprügelt wurde. Wer arbeitsunfähig oder krank war, wurde nach Buchenwald zurückgeschickt und durch einen arbeitsfähigen Häftling ersetzt. So ergab sich die Zahl von 284 Namen aus acht Nationen, die in diesem Außenkommando verzeichnet waren. Aber ob Russe, Pole, Tscheche oder Deutscher, überlebenswichtig war die Solidarität aller Häftlinge. Nur so konnte man sich dem Terror des Lagerführers Best oder der SS-Chargen Hronizek, Heinrich oder Weyrauch erwehren.

Doch nicht alle Bewacher waren gleich. Richard Krauthause berichtet von einem Wachmann Heinrich Schlöffel, ein alter Polizist aus Niederzwehren, bei dem es gelungen sei, „ihn für unsere Sache zu gewinnen und überzeugen. Er unterstützte uns nicht nur materiell, sondern gab uns darüber hinaus die Möglichkeit, dass wir mit unseren Genossen in Kassel in Verbindung treten konnten.“ Schlöffel wurde daraufhin von der SS verhaftet und längere Zeit verhört. Bei Kriegsende war er jedoch wieder in Kassel. Kurz vor dem Heranrücken der alliierten Truppen wurde das Außenkommando aufgelöst. Das Gros der Häftlinge wurde am 28. März 1945 unter SS-Bewachung mit Bussen nach Buchenwald zurückgebracht. Nur ein Aufräumkommando wurde am 29. März mit PKWs in Richtung Harz in Marsch gesetzt.

Anders erging es den Häftlingen des Arbeitserziehungslagers (AEL) Breitenau. Im Kloster Breitenau, das schon 1933/34 als frühes Konzentrationslager genutzt worden war, hatten die Nazis 1940 ein AEL errichtet, in dem – wie aus den Unterlagen ersichtlich – vor allem Kasseler und Zwangsarbeiter inhaftiert waren. Oftmals war die Haft hier die erste Station auf dem Weg in eines der großen KZs und Vernichtungslager.

Wegen die Bombenschäden wurde im Februar/März 1945 auch die Dienststelle der Kasseler Gestapo nach Breitenau verlegt. Neben einzelnen Baracken in den Goethe-Anlagen befand sich nunmehr die Terrorzentrale in Guxhagen. Chef der Gestapo 1944/45 war Franz Marmon, sein Stellvertreter SS-Hauptsturmführer Erich Engels.

Auch dieses AEL wurde beim Vormarsch der amerikanischen Truppen aufgelöst. Keiner der 716 Schutzhaftgefangenen sollte den Alliierten in die Hände fallen. Am Abend des 28.März wurden sie in größeren Kolonnen unter Bewachung durch Gestapo-Männer aus dem Lager evakuiert. Eine Gruppe von knapp 200 Gefangenen wurde mit dem Zug nach Buchenwald deportiert. Der französische Gefangene Marc B. erinnert sich an seine Evakuierung: „Am 29. waren wir dran. Alle, die im Lager zurückgeblieben waren, mussten sich versammeln, und wir sind in Kolonnen über die Straße in Richtung Kassel abmarschiert und wurden von Soldaten bewacht.“

Doch nicht alle sind in diesem Zuge mitmarschiert. Eine Gruppe von etwa 30 Schutzhaftgefangenen wurde noch am 29. März in Breitenau erschossen. (dazu später mehr)

Rüstungsschmiede und Durchhaltepropaganda im letzten Kriegswinter

16. März 2020

Wer 1944/45 überhaupt noch in der Stadt bleiben durfte, war entweder für den Kriegseinsatz zu alt, oder „uk“-gestellt, d.h. in der Naziverwaltung, in der Versorgung der Bevölkerung oder – was die meisten betraf – in der Rüstungsproduktion eingesetzt. Und mit den Betrieben Henschel & Sohn, Wegmann und Co., Henschel Flugmotorenwerk, Fieseler, Beck und Henkel und anderen hatte Kassel ja genug Rüstungsindustrie. Nicht allein ausländische Zwangsarbeiter, auch deutsche Arbeitskräfte – vor allem Fachkräfte wie Mechaniker, Techniker und Ingenieure – wurden dahin dienstverpflichtet.

Trotz Bombenschäden wurden noch bis zum März 1945 in Kassel Panzer gebaut. Bei Wegmann produzierte man Panzerkampfwagen mit Flammwerfer-Aufsatz, Teile der schweren Kampfpanzer Panther, Tiger I und des fast 70 Tonnen schweren Tiger II. Auch bei Henschel & Sohn wurden Teile für diese Panzer hergestellt. Hinzu kamen Panzerabwehrkanonen und in den Flugmotorenwerken Antriebe für Stukas, Nachtaufklärer und Schlachtflugzeuge.

Je schlechter die tatsächliche Frontlage war, desto häufiger hörte man – zumeist hinter vorgehaltener Hand – Meldungen über neuartige Wunderwaffen. Gerade in einer Rüstungsschmiede wie Kassel verbreiteten sich Gerüchte über Wunderwaffen, die noch einmal die “Wende im Krieg“ bringen sollten, äußerst schnell. Solche Gerüchte über “Wunderwaffen“ dienten der “Durchhalte“- und “Endsieg“-Propaganda: „Wie erzwingen wir die Schicksalswende?“ fragte ein Leitartikel der Kurhessischen Landeszeitung (KLZ). Der stellvertretende Propagandachef Sündermann gab den Lesern auch gleich die Antwort: Man müsse nur warten, bis „der jüdische Angriff, der geführt wird, um uns zu vernichten, zusammenbricht“. Daher liege „im Halten … die Rettung des Reiches und die Gewißheit des Sieges.“

Dieser Propaganda stand nur die täglich erlebte Kriegsrealität im Wege. Am 10. März fand man in der KLZ die lapidare Meldung: „Die Anglo-Amerikaner setzten am gestrigen Tage ihre Terrorangriffe gegen das westliche Reichsgebiet fort. Starke Schäden entstanden erneut in Kassel, Münster und Frankfurt a.M.“ Für die Menschen in Kassel stellte es sich anders dar.

Am späten Abend des 8.März und am Vormittag des 9.März 1945 erlebten sie zwei schwere Angriffe von britischen und amerikanischen Bomberverbänden. Ziel der Angriffe war es laut “Night Raid Report“ No. 859 der Royal Air Force (RAF), „die Zerstörung der Stadt zu komplettieren und die Produktion der verbundenen Panzer- und Flugzeugmotoren-fabriken zu unterbinden und Reichsbahn-Einrichtungen (rail facilities) zu zerstören.“ (Stadtarchiv S 8 C107) Und es waren solche Objekte, die von Anfang an Kassel zu einem wichtigen Ziel der alliierten Luftangriffe gemacht hatte: Die Stadt als Rüstungsschmiede mit Henschel, Wegmann und Fieseler, die Stadt als Zentrum des Militärs mit Generalkommando, Wehrmachtseinrichtungen, Kasernen und als Stadt der Reichskriegertage, sowie als Verkehrsknotenpunkt für Truppenbewegungen und Rüstungsgüter.

Beim März-Angriff setzten die Briten fast 270 Flugzeuge ein, die Amerikaner am folgenden Tag über 320 Bomber. Wie wenig die deutsche Militärmaschinerie dieser Übermacht noch entgegenzusetzen hatte, zeigten die alliierten Verluste durch Luftabwehr. Nur ein einziges Begleitflugzeug, eine “Mosquito“ der RAF, wurde abgeschossen. Jeder Glaube an den “Endsieg“ musste vor solchen Realitäten kapitulieren.

Anhand von Luftaufnahmen stellten die Spezialisten fest, welche Schäden die Angriffe verursacht hatten. Detailliert listete der “Interpretation Report“ auf: Treffer auf den Verschiebebahnhof Rothenditmold, auf das Reichsbahnausbesserungswerk, auf die Henschelwerke I, II und III. Darüber hinaus wurden Schäden auf den Flugplätzen Rothwesten und Waldau festgestellt. Gleichzeitig wurden zahlreiche Brände im Zentrum von Kassel als Resultat des RAF-Angriffes registriert.

Besonders getroffen war das Südviertel, wie sich ein Zeitzeuge erinnert: „Es gab keinen Warndienst mehr. Die Hauptstraße des Viertels, die Frankfurter Straße, war ein Inferno.

Durch den Abwurf von Phosphorbomben und Sprengbomben brannten die meisten vier-stöckigen Häuser vom Dach bis zum Erdgeschoss zur gleichen Zeit wie Fackeln. Es war eine unvorstellbare Hitze. Auf der Straße entdeckte ich zwei tote Menschen; noch ungefähr 80 cm groß, verkohlt. Beim letzten Angriff am nächsten Tag verloren viele Menschen ihre letzte Habe, die sie nachts noch gerettet hatten. Die Habseligkeiten standen auf dem Gelände der Kunstakademie in der Menzelstraße. Dort und an anderer Stelle fielen Sprengbomben, zum Teil mit Zeitzünder.“

Glücklicherweise wurden bei beiden Angriffen nur etwa 60 Menschen getötet, die Zahl der Verletzten war jedoch erheblich höher. Doch gab es so gut wie keine Möglichkeit, sie ordnungsgemäß medizinisch zu versorgen. Krankenhäuser waren beschädigt oder zerstört, Ärzte fehlten an allen Ecken und Enden. Einer der letzten war Dr. Sommerfeld, der im Weinberg-Bunker Verletzte versorgte. Vorrangig sollte er jedoch Wehrmachtangehörige “Front-fit“ machen.

75. Jahrestag der Befreiung – Kassel 1945

16. März 2020

Da angesichts der Corona-Entwicklung öffentliche Veranstaltungen zur antifaschistischen Gedenkarbeit auch in Kassel in den kommenden Wochen nicht möglich sein werden, wollen wir auf dieser Homepage einige Beiträge zur Erinnerungsarbeit veröffentlichen.

Unter der Überschrift Kassel 1945 werden in chronologischer Abfolge in den kommenden Tagen jeweils neue Beiträge zur Kasseler Geschichte veröffentlicht. Das Material stützt sich vor allem auf die Broschüre „Tage der Befreiung 1945 – ‚Tiger‘-Stadt – Trümmerstadt – Träume einer neuen Zeit“, hrsg. Helge von Horn und Ulrich Schneider, Kassel 2015.

Außerdem empfehlen wir die Nutzung der Web-Site „dasjahr1945.de“, die auf der rechten Seite der Homepage verlinkt ist.

 

 

Zwangsarbeiter in Kassel

16. März 2020

„Wir haben morgens immer die Kolonnen gehört, wenn die Zwangsarbeiter vom Lager Möncheberg durch unsere Straße zogen. Manchmal bin ich an das Fenster gegangen. Dann habe ich diese ärmlichen Gestalten gesehen“, berichtet eine Kasselerin, die in der Nordstadt lebte. Im Kriegswinter 1944/45 gehörten ausländischen Zwangsarbeiter zum alltäglichen Bild dieser Stadt.

Bereits im März 1940 kamen die ersten ausländischen Arbeiter nach Kassel. Die Henschel-Werke hatten dringend Arbeitskräfte angefordert, um die Kriegsproduktion aufrechterhalten zu können. 1943 machte der Anteil der ausländischen Arbeiter mit 13.000 weit mehr als die Hälfte der Belegschaft aus. In Frankreich und Belgien wurden sie anfangs angeworben, später – in den Niederlanden, in Polen und der Sowjetunion – wurden Männer und Frauen zwangsausgehoben. Die “Ostarbeiter“ standen auf der untersten Stufe der Hierarchie. Sie bekamen den geringsten Lohn, oftmals überhaupt keinen, ihre Lebens- und Arbeitsbedingungen unterschieden sich in negativer Hinsicht deutlich von den West-arbeitern. Rekrutiert wurden sie auch aus den Kriegsgefangenenlagern, besonders dem STALAG IX A in Ziegenhain. 1943 kamen noch italienische Militärinternierte hinzu.

Eingesetzt wurden sie in mehr als 60 Kasseler Betrieben, vor allem in den großen Rüstungswerken, wie z.B. bei Fieseler, Henschel & Sohn und Henschel Flugmotorenbau, in der Spinnfaser AG, bei Wegmann und Crede, aber auch beim Autohaus Opel, der Deutschen Arbeits-front, der Kasseler Verkehrsgesellschaft, der Reichsbahn und in der Landwirtschaft. Ab Oktober 1943 wurden sie auch bei der Trümmerbeseitigung nach den Bombardements eingesetzt.

Ihr Leben bestand faktisch nur aus Arbeit. Täglich, außer sonntags, mussten sie 10-12 Stunden arbeiten. Bei Henschel wurde „von 7-18 Uhr mit 15 Minuten Frühstückspause und etwa einer Stunde Mittag“ gearbeitet. Als ungelernte Arbeitskräfte wurden sie in körperlich besonders anstrengenden Bereichen eingesetzt. Wer die geforderte Leistung nicht schaffte, lief Gefahr, ins Arbeitserziehungslager Breitenau (AEL) verbracht zu werden.

Trotz harter Arbeit war die Ernährung katastrophal. Sie war so schlecht, dass sich die Geschäftsleitung von Fieseler über die „Unterernährung der Arbeitskräfte“ beschwerte. Doch blieb es bei einer Ration von etwa 2.200 Kalorien pro Tag für Schwerarbeiter. Manch einer überlebte nur, weil andere Arbeiter Solidarität übten. Frau B., die bei Wegmann arbeitete, sah bei den sowjetischen Zwangsarbeitern „die kärglichen Mahlzeiten, die kriegten ewig nur Kohlsuppe oder so etwas.“ Und sie berichtet: „Wir hatten denen immer mal Brot mitgenommen, von unserem, wo wir selber nicht so viel hatten.“

Die Zwangsarbeiter waren über ganz Kassel verstreut. In über 200 Lagern und Unterkünften von Bettenhausen bis Wolfsanger waren 1944 die über 30.000 Zwangsarbeiter untergebracht. Die Lager wurden von deutschen Zivilbeschäftigten geleitet, die sich jedoch – im nationalsozialistischen Sinne – “vorbildlich“ für die Ordnung in den Lagern einsetzten. Es herrschte ein Regiment, wie unter SS-Bedingungen. Die größten Lager waren die Möncheberger Gewerkschaft, Holländische Straße/Struthbachweg, General Scheffer Straße (heute: Damaschke-Straße), Nürnberger Straße und das Wohnlager Mattenberg.

Zwangsarbeiter galten als “Menschen 2.Klasse“ und jeder Kontakt zwischen Deutschen und Ausländern wurde untersagt. Die “Kurhessische Landeszeitung“ warnte daher die Leser unter der Überschrift: „Keine Gemeinschaft mit Volksfremden“ vor jedem menschlichen Umgang mit Polen. Wer sich nicht „auf Distanz“ zu den Ostarbeitern hielt wurde als Deutscher bzw. als Deutsche nur verwarnt. Die Ausländerinnen jedoch kamen ins KZ, die Ausländer wurden hingerichtet.

Besonders wegen ungenügender Arbeitsleistung wurden Ausländer terrorisiert. Im Lager Möncheberger Gewerkschaft gab es ein eigenes Gestapo-Straflager. Wer sich davon nicht beeindruckt zeigte, konnte nach Breitenau überführt werden oder direkt ins KZ Buchenwald. Mehrfach wurden in Kassel Ausländer hingerichtet. Im Oktober 1943 wurde gemeldet, dass 7 Ausländer gehenkt worden seien. Und im Mai 1944 berichtete das Rüstungskommando Kassel von der Hinrichtung dreier sowjetischer Kriegsgefangener wegen angeblicher Plünderung. Auch im Zuchthaus Wehlheiden wurden Todesurteile gegen ausländische Häftlinge vollstreckt.

Wir gedenken der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz

27. Januar 2020

Am Montag, den 27. Januar 2020 versammelten sich auf Einladung des „Offenen Antifaschistischen Treffen“ und der VVN-BdA Kassel über 100 Menschen unterschiedlicher Generationen zu einer öffentlichen Gedenkkundgebung am Aschrott-Brunnen am Kasseler Rathaus. Für die VVN-BdA sprach Bundessprecher Dr. Ulrich Schneider:

 

Wir erinnern heute, am 27. Januar, an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz vor 75 Jahren durch die Rote Armee. Genau wie Auschwitz eine singuläre Bedeutung als Konzentrations- und Vernichtungslagers besitzt, so war auch dessen Befreiung ein Symbol für das erkennbare Ende der faschistischen Herrschaft.

Was war Auschwitz?

Ich möchte am Anfang wenige Stichworte zur Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz voranstellen:

Errichtet wurde das Lager im Juni 1940 für polnische politische Gegner, darunter zahlreiche Priester und Intellektuelle.

Bereits seit Frühjahr 1941 war es – in Vorbereitung auf den generalstabsmäßig geplanten Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 – als zentrales Lager für sowjetische Kriegsgefangene vorgesehen. In Auschwitz-Birkenau sollten 100.000 Kriegsgefangene zusammengetrieben werden.

Doch Birkenau wurde nicht als Kriegsgefangenenlager gebraucht, sondern in der Wannsee-Konferenz als ein zentraler Ort der Massenvernichtung vorgesehen, so dass dort die Gaskammern und Krematorien errichtet wurden.

Und wir haben einen dritten Bereich: Auschwitz-Monowitz als KZ der IG Farben, wo im Interesse der Kriegsproduktion und der Profitmaximierung „Vernichtung durch Arbeit“ betrieben wurde.

Unvorstellbar ist die zahlenmäßige Dimension. Wir wissen heute, dass 1,3 Mio. Menschen in Auschwitz waren, von denen 1,1 Mio. ermordet wurden. Etwa 900.000 Menschen, Frauen und Männer, wurden direkt zur Vernichtung getrieben, nur 400.000 Häftlinge wurden registriert, die Mehrheit von ihnen jüdische Menschen, etwa 150.000 Polen, 28.000 Sinti und Roma, 12-15.000 sowjetische Kriegsgefangene sowie knapp 30.000 Menschen aus allen anderen okkupierte Ländern.

Am 27. Januar 1945 erreichten die sowjetischen Truppen der 60. Armee der I. Ukrainischen Front das Lager Monowitz. Einheiten der Waffen-SS und der Wehrmacht leisteten noch erbitterten militärischen Widerstand, so dass über 230 sowjetische Soldaten bei der Befreiung von Auschwitz ihr Leben ließen. Im Laufe des Tages stießen die Soldaten der Roten Armee nach Auschwitz und Birkenau vor. Beide Lagerteile wurden gegen 15:00 h befreit. Etwa 7.000 Häftlinge, die aus der Sicht der Faschisten nicht mehr transportfähig waren, erlebten die Befreiung im Lager, mehrere 10.000 Häftlinge waren in den Tagen zuvor noch auf Todesmärsche geschickt worden.

Anlässlich dieses Gedenktages stellen wir uns die Frage:

Was bedeutet Auschwitz heute für uns?

Ich möchte sie beantworten ausgehend von Gedanken, die der Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees Henri Goldberg aus Belgien zusammengetragen hat.

Auschwitz verkörpert mehr als jeder andere Ort in Europa alle Verbrechen, die Hitler-Deutschland begangen hat: die Versklavung von Menschen und Nationen, Deportationen, Zwangsarbeit, Prügel, Folter, Demütigung, Hunger und natürlich die Vernichtung von Juden und Sinti und Roma. Im Laufe der Jahre ist es zu dem Ort geworden, der all diese Verbrechen kristallisiert.

Auschwitz war in diesem Sinne ein Kulminationspunkt des jahrhundertealten Antisemitismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern. Wurde dieser Antisemitismus anfangs vor allem religiös legitimiert, verband er sich später mit einer „Sündenbock“-Vorstellung, die ebenfalls die Gruppe der Sinti und Roma erfasste. Beiden Gruppen wurden alle nur erdenklichen Schlechtigkeiten unterstellt, die nur durch Ausrottung beseitigt werden könnten. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurde dieser religiöse Antisemitismus rassistisch unterfüttert und steigerte sich von „Die Juden sind unser Unglück“ zur öffentlich propagierten Vernichtung von jüdischen Menschen, Sinti und Roma und allen anderen, die als „Untermenschen“ nicht in die nazistische „Volksgemeinschaft“ passten. Doch Auschwitz ist nicht nur ein ideologischer Kulminationspunkt dieses Rassismus, sondern wurde grausame Realität der rassistisch begründeten Massenvernichtung.

Aber die negative evokative Kraft von Auschwitz geht über diese Fakten hinaus, so schrecklich sie auch sein mögen. Der Name Auschwitz hat etwas Universales in sich. Auschwitz ist zu einem sichtbaren Leuchtfeuer geworden, das die Verweigerung von Leben, Respekt und Toleranz verkörpert. Es richtet sich an jeden von uns und verpflichtet uns zur Selbstbeobachtung und zur Frage nach der menschlichen Natur. Es erinnert uns daran, dass Bildung und Kultur angesichts der Barbarei und des kriminellsten Verhaltens keine unüberwindlichen Bollwerke sind. Es erinnert uns daran, was gewöhnliche Menschen anderen gewöhnlichen Menschen antun können.

Die Überlebenden von Auschwitz und der anderen Lager und Haftstätten bildeten nach ihrer Heimkehr ein Netzwerk, um Kameraden in Not, den Witwen und Angehörigen zu helfen. Aber sie sprachen nicht über ihre Leidensgeschichte, weil die Menschen ihnen nicht glauben konnten. Es war so, dass ihre Erfahrungen über alle Vorstellungen hinausgingen. Paul Baeten, ein siebzehnjähriger belgischer Widerstandskämpfer, kein Jude, kehrte lebend aus dem Lager zurück. Zurück in der Schule berichtete er seinen Mitschülern, was er erlebt hatte. Seine Mutter forderte ihn auf, nicht weiter darüber zu berichten, weil man ihm nicht glaubte. Die Menschen hielten ihn für verrückt und er war in der Gefahr, eingewiesen zu werden. Wie könnten nun Menschen auf die Zeugenberichte von jüdischen Verfolgten reagieren, deren einzige Bestimmung es – im Blick der Faschisten – war, im Rauch der Verbrennungsöfen zu enden?

Als aber Anfang der 1970er Jahre Holocaust-Leugner ihre schreckliche Arbeit begannen und behaupteten, dass es niemals Nazi-Gaskammern gegeben habe, konnten die Überlebenden von Auschwitz nicht länger schweigen. Sie begannen, Zeugnis abzulegen über ihre Erlebnisse in den Lagern. Die Ergebnisse dieser Arbeit waren wichtig und beeindruckend. Sie führen dazu, dass sich immer mehr Menschen mit der Geschichte des Holocaust und der faschistischen Vernichtungslager beschäftigen.

Doch wir stehen heute vor einem Problem:

Die Zeit der Zeitzeugen ist fast vorbei und bald werden nur noch die Orte als Zeugen übrig bleiben. Und wir müssen darüber nachdenken, wie kann die Würde des Ortes gewahrt bleiben, wenn Tausende von täglichen Besuchern Auschwitz aufsuchen? Wie kann man einem solchen Besuch einen Sinn geben, der mehr ist, als die Besichtigung eines interessanten touristischen Ziels?

Der Umgang mit Auschwitz ist heute unklarer geworden. Ist es eine Gedenkstätte, eine historische Stätte, ein Museum oder ein Friedhof?

Darf das, was dort während des Krieges geschah, all diese schlimmen Lebenserfahrungen und zerstörten Familien, zu einer Konkurrenz des Gedenkens zwischen nationalen, politischen oder religiösen Perspektiven gemacht werden? Steht das nicht im völligen Widerspruch zu dem, was der Ort bedeutet?

Als Dachau im April 1945 befreit wurde, war die Journalistin Martha Gellhorn gemeinsam mit den amerikanischen Truppen anwesend. Erschrocken über das, was sie sah, schrieb sie einen eindrucksvollen, sehr menschlichen Text, in dem sie zu dem Schluss kam: „Denn dieser Krieg wurde sicherlich geführt, um Dachau und alle anderen Orte wie Dachau und alles, was Dachau repräsentiert, abzuschaffen und für immer abzuschaffen.“ Ist das nicht der Zweck aller Gedächtnisarbeit im Nazi-Konzentrationslager-Universum?

Sie hätte die gleichen Worte verwenden können, wenn sie in Sachsenhausen, Bergen Belsen, Mauthausen, Dora, Groß-Rosen… und natürlich in Auschwitz gewesen wäre, wo Sklavenarbeit und wahrscheinlicher Tod im Lager oder in der damit verbundenen industriellen Infrastruktur mit dem sicheren und sofortigen Tod in den Gaskammern vermischt wurden. Wegen dieser Einzigartigkeit, der Tatsache, dass Auschwitz sowohl ein Konzentrationslager als auch ein Vernichtungslager war, verkörpert es die Verbrechen der Nazis in einem solchen Ausmaß.

Der Philosoph Theodor W. Adorno formulierte Mitte der 1960er Jahre als Reaktion auf diese Erfahrung in seinem Aufsatz „Erziehung nach Auschwitz“ seinen berühmten pädagogischen Imperativ: „Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, dass ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. Ich kann nicht verstehen, dass man mit ihr bis heute so wenig sich abgegeben hat. Sie zu begründen hätte etwas Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug.“

Er formulierte diese Aussage vor dem Hintergrund der Berichte über den Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963 bis 1965. Doch wie kann ein solcher Anspruch Wirklichkeit werden, wenn die gesellschaftliche Erinnerung verblasst? Und daher gilt es immer wieder neu darüber nachzudenken, wie dieser Anspruch mit Leben erfüllt werden kann.

Über die Erinnerungsarbeit hinaus zwingt uns Auschwitz zu philosophischen und anthropologischen Reflexionen. Unter dem, was wesentlich ist und mit den jüngeren Generationen weiterentwickelt werden muss, gibt es das grundlegende Bewusstsein für Verantwortung und die Natur des Menschen. Die schematische Aufteilung der Hölle im Konzentrationslager zwischen menschlichen Opfern und unmenschlichen Henkern lässt uns nicht verstehen und beschreiben, was wirklich passiert ist. Schlimmer noch, es verhindert jede reflexive Arbeit. Wir wissen, dass selbst Häftlinge anderen Häftlingen etwas angetan haben. Es ist auch bekannt, dass die SS-Leute, die zu den schlimmsten Taten im Lager fähig waren, liebevolle Ehemänner und Väter sein konnten. Was ist Normalität, Passivität, Unterwerfung, Mut, Gehorsam, Nützlichkeit usw.? Primo Levi stellte diese Fragen in einem Satz: „Es gibt Monster, aber sie sind zu wenige, um wirklich gefährlich zu sein; die gefährlicheren sind gewöhnliche Menschen (….)“.

Henri Goldbergs Schlussfolgerungen sind: „Wir haben es in der Auseinandersetzung über Auschwitz mit universellen und zeitlosen Problemen zu tun, die direkt angegangen werden müssen. Die Frage ist, wie.“

Was ist heute zu tun?

Auf diese Abschlussfrage hat Esther Bejarano, Überlebende der Konzentrationslager Auschwitz und Ravensbrück, in einem Brief an den Bundespräsidenten, an die Bundeskanzlerin und die Mitglieder des Bundestages ihre Antworten gegeben. Sie hat darin sechs Forderungen gegenüber den Regierenden und allen, die aus der Geschichte lernen wollen, formulierte. Sie schreibt:

Es ist für uns Überlebende unerträglich, wenn heute wieder Naziparolen gebrüllt werden, wenn Menschen durch die Straßen gejagt und bedroht werden, wenn Todeslisten kursieren. Wir wollen uns nicht gewöhnen an Meldungen über antisemitische, rassistische und menschenfeindliche Attacken in Berlin und anderswo, in Halle, wo nur stabile Türen die jüdische Gemeinde schützten, aber zwei Menschen ermordet wurden.

 Was können wir tun?

Ich will, dass wir alle aufstehen, wenn Jüdinnen und Juden, wenn Roma oder Sinti, wenn Geflüchtete, wenn Menschen rassistisch beleidigt oder angegriffen werden!

Ich will, dass ein lautes „Nein“ gesagt wird zu Kriegen, zum Waffenhandel. Wer den letzten Krieg vergisst, der bereitet schon den nächsten vor.

Ich will, dass wir gegen die Ausbeutung der Menschen und unseres Planeten kämpfen, Hilfesuchende solidarisch unterstützen und Geflüchtete aus Seenot retten. Eine Gesellschaft muss sich messen lassen an ihrem Umgang mit den Schwächsten.

Ich fordere entschlossenes Handeln gegen das Treiben der Neonazis, denn trotz Grundgesetz und alledem konnten Abgeordnete einer neurechten Partei vom NS als „Vogelschiss in deutscher Geschichte“ und vom Holocaust-Gedenkort in Berlin als „Denkmal der Schande“ sprechen, konnte der NSU ein Jahrzehnt lang ungestört morden und die Neonazi-Gruppe „Combat 18“ frei agieren.

Ich fordere, dass die Diffamierung von Menschen und Organisationen aufhört, die entschlossen gegen rechts handeln. Was ist gemeinnütziger als Antifaschismus? Es ist auch unerträglich, wenn ein paar Antifa-Aufkleber in Schulen Anlass für Denunziationen über Petz-Portale von neurechten Parteien sind. Niemand sollte für antifaschistisches Handeln, für gemeinsame Aktionen gegen den Hass, gegen alte und neue Nazis diskreditiert und verfolgt werden!

Ich fordere: Der 8. Mai muss ein Feiertag werden! Ein Tag, an dem die Befreiung der Menschheit vom NS-Regime gefeiert werden kann. Das ist überfällig seit sieben Jahrzehnten. Und hilft vielleicht, endlich zu begreifen, dass der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung war, der Niederschlagung des NS-Regimes. Wie viele andere aus den Konzentrationslagern wurde auch ich auf den Todesmarsch getrieben. Erst Anfang Mai wurden wir von amerikanischen und russischen Soldaten befreit. Am 8. Mai wäre dann Gelegenheit, über die großen Hoffnungen der Menschheit nachzudenken: Über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und Schwesterlichkeit.

Ich kann mich diesen Forderungen von Esther Bejarano in jeder Form anschließen.

Zum letzten Punkt eine aktuelle Ergänzung:

Heute Nachmittag wurden in Wiesbaden dem hessischen Ministerpräsidenten Bouffier und – mit Ausnahme der AfD – allen Fraktionen im hessischen Landtag ein gemeinsamer Brief des DGB Hessen-Thüringen und der hessischen VVN-BdA übergeben, wo genau diese Forderung – den 8. Mai auch in Hessen zum Feiertag zu erklären – erhoben wird.

Wir sind gespannt auf die politischen Antworten.

Kundgebung zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus

20. Januar 2020

Vor 75 Jahren, am 27. Januar 1945, befreiten sowjetische Truppen der 60. Armee der I. Ukrainischen Front unter dem Oberkommandierender Marschall I.S. Konew das Vernichtungslager Auschwitz.

Auschwitz steht bis heute als Symbol für die unfassbare Monstrosität der faschistischen Vernichtungspolitik. In das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz wurden vom Sommer 1940 bis Januar 1945 über 1,3 Mio. Menschen aus ganz Europa, Juden, Sinti und Roma, politische Gegner und andere Ausgegrenzte verschleppt, mindestens 1,1 Mio. wurden in den Gaskammern, durch Erschießungen oder durch „Vernichtung durch Arbeit“ für den IG Farben Konzern und andere Rüstungsbetriebe ermordet.

1996 erklärte der damalige Bundespräsident Herzog den 27. Januar zum Gedenktag für alle Opfer des Nationalsozialismus. Seit über einem Jahrzehnt wird – auf Beschluss der Vereinten Nationen – dieses Datum auch als Internationaler Gedenktag für die Opfer des Holocaust begangen.

In Kassel finden aus diesem Anlass verschiedene Gedenkveranstaltungen in Schulen, der Gedenkstätte Breitenau und in der Lutherkirche statt. Das „Offene Antifaschistische Treffen“ (OAT) und die Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA) Kassel wollen dazu auch ein öffentlich sichtbares Gedenken organisieren.

Die Erinnerung an die historischen Ereignisse verpflichtet uns heute, gemeinsam aktiv gegen Neofaschismus, Rassismus und Ausgrenzung einzutreten. Wir sollten gemeinsam zeigen, dass in dieser Stadt kein Platz für Antisemitismus und Rassismus ist.

Wir gedenken der Opfer des Faschismus. 75 Jahre sind vergangen, doch nichts soll jemals vergessen werden.

Wir laden gemeinsam ein zu einer

Gedenkkundgebung

Ort: neben dem Aschrottbrunnen am Rathaus

Zeit: 27. Januar 2020, um 16:30 h

 

Was ist gemeinnützig? Offener Brief von Esther Bejarano an Finanzminister Scholz

27. November 2019

Angesichts der Angriffe auf die VVN-BdA durch die Aberkennung der Gemeinnützigkeit hat die Überlebende des vernichtungslagers Auschwitz und Ehrenvorsitzende der VVN-BdA nachfolgenden Brief an Bundesfinanzminister Olaf Scholz geschrieben:

Sehr geehrter Herr Minister Scholz,

seit 2008 bin ich die Ehrenvorsitzende der VVN–BdA, der gemeinnützigen Vereinigung der Verfolgten des Nazi-Regimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten, gegründet 1947 von Überlebenden der Konzentrationslager und NS-Verfolgten. Die Arbeit der Antifa, die Arbeit antifaschistischer Vereinigungen ist heute – immer noch – bitter nötig. Für uns Überlebende ist es unerträglich, wenn heute wieder Naziparolen gebrüllt, wenn jüdische Menschen und Synagogen angegriffen werden, wenn Menschen durch die Straßen gejagt und bedroht werden, wenn Todeslisten kursieren und extreme Rechte nicht mal mehr vor Angriffen gegen Vertreter des Staates zurückschrecken.

Wohin steuert die Bundesrepublik?
Das Haus brennt – und Sie sperren die Feuerwehr aus!, wollen der größten und ältesten antifaschistischen Vereinigung im Land die Arbeit unmöglich machen? Diese Abwertung unserer Arbeit ist eine schwere Kränkung für uns alle. „Die Bundesrepublik ist ein anderes, besseres Deutschland geworden“, hatten mir Freunde versichert, bevor ich vor fast 60 Jahren mit meiner Familie aus Israel nach Deutschland zurückgekehrt bin. Alten und neuen Nazis bin ich hier trotzdem begegnet.
Aber hier habe ich verlässliche Freunde gefunden, Menschen, die im Widerstand gegen den NS gekämpft haben, die Antifaschistinnen und Antifaschisten. Nur ihnen konnte ich vertrauen.

Wir Überlebende der Shoah sind die unbequemen Mahner, aber wir haben unsere Hoffnung auf eine bessere und friedliche Welt nicht verloren. Dafür brauchen wir und die vielen, die denken wie wir, Hilfe! Wir brauchen Organisationen, die diese Arbeit unterstützen und koordinieren.

Nie habe ich mir vorstellen können, dass die Gemeinnützigkeit unserer Arbeit angezweifelt oder uns abgesprochen werden könnte! Dass ich das heute erleben muss!
Haben diejenigen schon gewonnen, die die Geschichte unseres Landes verfälschen wollen, die sie umschreiben und überschreiben wollen? Die von Gedenkstätten ‚als Denkmal der Schande‘ sprechen und den NS-Staat und seine Mordmaschine als ‚Vogelschiss in deutscher Geschichte‘ bezeichnen?
In den vergangenen Jahrzehnten habe ich viele Auszeichnungen und Ehrungen erhalten, jetzt gerade wieder vom Hamburger Senat eine Ehrendenkmünze in Gold. Mein zweites Bundesverdienstkreuz, das Große, haben Sie mir im Jahr 2012 persönlich feierlich über-reicht, eine Ehrung für hervorragende Verdienste um das Gemeinwohl, hieß es da. 2008 schon hatte der Bundespräsident mir das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse angeheftet. Darüber freue ich mich, denn jede einzelne Ehrung steht für Anerkennung meiner – unserer – Arbeit gegen das Vergessen, für ein „Nie wieder Krieg – nie wieder Faschismus“, für unseren Kampf gegen alte und neue Nazis.

Wer aber Medaillen an Shoah-Überlebende vergibt, übernimmt auch eine Verpflichtung. Eine Verpflichtung für das gemeinsame NIE WIEDER, das unserer Arbeit zugrunde liegt.
Und nun frage ich Sie:
Was kann gemeinnütziger sein, als diesen Kampf zu führen?
Entscheidet hierzulande tatsächlich eine Steuerbehörde über die Existenzmöglichkeit einer Vereinigung von Überlebenden der Naziverbrechen?
Als zuständiger Minister der Finanzen fordere ich Sie auf, alles zu tun, um diese unsäg-liche, ungerechte Entscheidung der Aberkennung der Gemeinnützigkeit der Arbeit der VVN–BdA rückgängig zu machen und entsprechende Gesetzesänderungen vorzuschlagen.
Wir Überlebenden haben einen Auftrag zu erfüllen, der uns von den Millionen in den Konzentrationslagern und NS-Gefängnissen Ermordeten und Gequälten erteilt wurde. Dabei helfen uns viele Freundinnen und Freunde, die Antifaschistinnen und Antifaschisten – aus Liebe zur Menschheit! Lassen Sie nicht zu, dass diese Arbeit durch zusätzliche Steuerbelastungen noch weiter erschwert wird.

Mit freundlichen Grüßen
Esther Bejarano
Vorsitzende
Auschwitz-Komitee in der Bundesrepublik Deutschland e.V.

 

Die beste Antwort auf diese Angriffe: Antifaschismus stärken – Mitglied werden in der VVN-BdA.

 

7. Nov. 2019: Gedenkgang zum 81. Jahrestag der Reichspogromnacht in Kassel

25. Oktober 2019

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Wie in den letzten Jahren erinnern wir mit dieser öffentlichen Aktion an die antisemitischen Ausschreitungen vor 81 Jahren vor den Augen der Menschen dieser Stadt. In diesem Jahr hat das Gedenken durch den antisemitischen Überfall auf die Synagoge in Halle/S. eine zusätzliche Bedeutung. Die Erinnerung an die historischen Ereignisse verpflichtet uns heute, gemeinsam aktiv gegen Neofaschismus, Rassismus und Ausgrenzung einzutreten.

Der Anschlag von Halle/ S. zeigt: Antisemitismus tötet! Im Gedenken an die Opfer der Kasseler Pogromnacht: In dieser Stadt ist kein Platz für Antisemitismus und Rassismus!

Mit dem Gedenkgang soll durch eine Verortung von Geschichte die Erinnerung an Verfolgung und faschistischen Terror für heutige Generationen lebendig gehalten und gleichzeitig ein Signal gegen Neofaschismus und Antisemitismus heute gesetzt werden. Bei diesem antifaschistischen Stadtrundgang werden historische Orte der antisemitischen Verfolgung und Gedenkorte gegen Ausgrenzung aufgesucht.

Gedenkkundgebung und Mahngang

Von der ehemaligen Synagoge zum Aschrott-Brunnen (Rathaus)

Donnerstag, den 7.November 2019,

Beginn: 16.30 Uhr

Treffpunkt: Gedenktafel für die ehemalige Synagoge,Untere Königstraße (gegenüber Hauptpost) anschließend Mahngang auf den Spuren der Ausgrenzung, Verfolgung und Deportation (mit historischen Erläuterungen)

Einladungsflugblatt zum Ausdruck: Flugblatt7-nov19

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