Wir gedenken der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz

27. Januar 2020

Am Montag, den 27. Januar 2020 versammelten sich auf Einladung des „Offenen Antifaschistischen Treffen“ und der VVN-BdA Kassel über 100 Menschen unterschiedlicher Generationen zu einer öffentlichen Gedenkkundgebung am Aschrott-Brunnen am Kasseler Rathaus. Für die VVN-BdA sprach Bundessprecher Dr. Ulrich Schneider:

 

Wir erinnern heute, am 27. Januar, an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz vor 75 Jahren durch die Rote Armee. Genau wie Auschwitz eine singuläre Bedeutung als Konzentrations- und Vernichtungslagers besitzt, so war auch dessen Befreiung ein Symbol für das erkennbare Ende der faschistischen Herrschaft.

Was war Auschwitz?

Ich möchte am Anfang wenige Stichworte zur Geschichte des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz voranstellen:

Errichtet wurde das Lager im Juni 1940 für polnische politische Gegner, darunter zahlreiche Priester und Intellektuelle.

Bereits seit Frühjahr 1941 war es – in Vorbereitung auf den generalstabsmäßig geplanten Überfall auf die Sowjetunion im Sommer 1941 – als zentrales Lager für sowjetische Kriegsgefangene vorgesehen. In Auschwitz-Birkenau sollten 100.000 Kriegsgefangene zusammengetrieben werden.

Doch Birkenau wurde nicht als Kriegsgefangenenlager gebraucht, sondern in der Wannsee-Konferenz als ein zentraler Ort der Massenvernichtung vorgesehen, so dass dort die Gaskammern und Krematorien errichtet wurden.

Und wir haben einen dritten Bereich: Auschwitz-Monowitz als KZ der IG Farben, wo im Interesse der Kriegsproduktion und der Profitmaximierung „Vernichtung durch Arbeit“ betrieben wurde.

Unvorstellbar ist die zahlenmäßige Dimension. Wir wissen heute, dass 1,3 Mio. Menschen in Auschwitz waren, von denen 1,1 Mio. ermordet wurden. Etwa 900.000 Menschen, Frauen und Männer, wurden direkt zur Vernichtung getrieben, nur 400.000 Häftlinge wurden registriert, die Mehrheit von ihnen jüdische Menschen, etwa 150.000 Polen, 28.000 Sinti und Roma, 12-15.000 sowjetische Kriegsgefangene sowie knapp 30.000 Menschen aus allen anderen okkupierte Ländern.

Am 27. Januar 1945 erreichten die sowjetischen Truppen der 60. Armee der I. Ukrainischen Front das Lager Monowitz. Einheiten der Waffen-SS und der Wehrmacht leisteten noch erbitterten militärischen Widerstand, so dass über 230 sowjetische Soldaten bei der Befreiung von Auschwitz ihr Leben ließen. Im Laufe des Tages stießen die Soldaten der Roten Armee nach Auschwitz und Birkenau vor. Beide Lagerteile wurden gegen 15:00 h befreit. Etwa 7.000 Häftlinge, die aus der Sicht der Faschisten nicht mehr transportfähig waren, erlebten die Befreiung im Lager, mehrere 10.000 Häftlinge waren in den Tagen zuvor noch auf Todesmärsche geschickt worden.

Anlässlich dieses Gedenktages stellen wir uns die Frage:

Was bedeutet Auschwitz heute für uns?

Ich möchte sie beantworten ausgehend von Gedanken, die der Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees Henri Goldberg aus Belgien zusammengetragen hat.

Auschwitz verkörpert mehr als jeder andere Ort in Europa alle Verbrechen, die Hitler-Deutschland begangen hat: die Versklavung von Menschen und Nationen, Deportationen, Zwangsarbeit, Prügel, Folter, Demütigung, Hunger und natürlich die Vernichtung von Juden und Sinti und Roma. Im Laufe der Jahre ist es zu dem Ort geworden, der all diese Verbrechen kristallisiert.

Auschwitz war in diesem Sinne ein Kulminationspunkt des jahrhundertealten Antisemitismus in Deutschland und anderen europäischen Ländern. Wurde dieser Antisemitismus anfangs vor allem religiös legitimiert, verband er sich später mit einer „Sündenbock“-Vorstellung, die ebenfalls die Gruppe der Sinti und Roma erfasste. Beiden Gruppen wurden alle nur erdenklichen Schlechtigkeiten unterstellt, die nur durch Ausrottung beseitigt werden könnten. Seit Ende des 19. Jahrhunderts wurde dieser religiöse Antisemitismus rassistisch unterfüttert und steigerte sich von „Die Juden sind unser Unglück“ zur öffentlich propagierten Vernichtung von jüdischen Menschen, Sinti und Roma und allen anderen, die als „Untermenschen“ nicht in die nazistische „Volksgemeinschaft“ passten. Doch Auschwitz ist nicht nur ein ideologischer Kulminationspunkt dieses Rassismus, sondern wurde grausame Realität der rassistisch begründeten Massenvernichtung.

Aber die negative evokative Kraft von Auschwitz geht über diese Fakten hinaus, so schrecklich sie auch sein mögen. Der Name Auschwitz hat etwas Universales in sich. Auschwitz ist zu einem sichtbaren Leuchtfeuer geworden, das die Verweigerung von Leben, Respekt und Toleranz verkörpert. Es richtet sich an jeden von uns und verpflichtet uns zur Selbstbeobachtung und zur Frage nach der menschlichen Natur. Es erinnert uns daran, dass Bildung und Kultur angesichts der Barbarei und des kriminellsten Verhaltens keine unüberwindlichen Bollwerke sind. Es erinnert uns daran, was gewöhnliche Menschen anderen gewöhnlichen Menschen antun können.

Die Überlebenden von Auschwitz und der anderen Lager und Haftstätten bildeten nach ihrer Heimkehr ein Netzwerk, um Kameraden in Not, den Witwen und Angehörigen zu helfen. Aber sie sprachen nicht über ihre Leidensgeschichte, weil die Menschen ihnen nicht glauben konnten. Es war so, dass ihre Erfahrungen über alle Vorstellungen hinausgingen. Paul Baeten, ein siebzehnjähriger belgischer Widerstandskämpfer, kein Jude, kehrte lebend aus dem Lager zurück. Zurück in der Schule berichtete er seinen Mitschülern, was er erlebt hatte. Seine Mutter forderte ihn auf, nicht weiter darüber zu berichten, weil man ihm nicht glaubte. Die Menschen hielten ihn für verrückt und er war in der Gefahr, eingewiesen zu werden. Wie könnten nun Menschen auf die Zeugenberichte von jüdischen Verfolgten reagieren, deren einzige Bestimmung es – im Blick der Faschisten – war, im Rauch der Verbrennungsöfen zu enden?

Als aber Anfang der 1970er Jahre Holocaust-Leugner ihre schreckliche Arbeit begannen und behaupteten, dass es niemals Nazi-Gaskammern gegeben habe, konnten die Überlebenden von Auschwitz nicht länger schweigen. Sie begannen, Zeugnis abzulegen über ihre Erlebnisse in den Lagern. Die Ergebnisse dieser Arbeit waren wichtig und beeindruckend. Sie führen dazu, dass sich immer mehr Menschen mit der Geschichte des Holocaust und der faschistischen Vernichtungslager beschäftigen.

Doch wir stehen heute vor einem Problem:

Die Zeit der Zeitzeugen ist fast vorbei und bald werden nur noch die Orte als Zeugen übrig bleiben. Und wir müssen darüber nachdenken, wie kann die Würde des Ortes gewahrt bleiben, wenn Tausende von täglichen Besuchern Auschwitz aufsuchen? Wie kann man einem solchen Besuch einen Sinn geben, der mehr ist, als die Besichtigung eines interessanten touristischen Ziels?

Der Umgang mit Auschwitz ist heute unklarer geworden. Ist es eine Gedenkstätte, eine historische Stätte, ein Museum oder ein Friedhof?

Darf das, was dort während des Krieges geschah, all diese schlimmen Lebenserfahrungen und zerstörten Familien, zu einer Konkurrenz des Gedenkens zwischen nationalen, politischen oder religiösen Perspektiven gemacht werden? Steht das nicht im völligen Widerspruch zu dem, was der Ort bedeutet?

Als Dachau im April 1945 befreit wurde, war die Journalistin Martha Gellhorn gemeinsam mit den amerikanischen Truppen anwesend. Erschrocken über das, was sie sah, schrieb sie einen eindrucksvollen, sehr menschlichen Text, in dem sie zu dem Schluss kam: „Denn dieser Krieg wurde sicherlich geführt, um Dachau und alle anderen Orte wie Dachau und alles, was Dachau repräsentiert, abzuschaffen und für immer abzuschaffen.“ Ist das nicht der Zweck aller Gedächtnisarbeit im Nazi-Konzentrationslager-Universum?

Sie hätte die gleichen Worte verwenden können, wenn sie in Sachsenhausen, Bergen Belsen, Mauthausen, Dora, Groß-Rosen… und natürlich in Auschwitz gewesen wäre, wo Sklavenarbeit und wahrscheinlicher Tod im Lager oder in der damit verbundenen industriellen Infrastruktur mit dem sicheren und sofortigen Tod in den Gaskammern vermischt wurden. Wegen dieser Einzigartigkeit, der Tatsache, dass Auschwitz sowohl ein Konzentrationslager als auch ein Vernichtungslager war, verkörpert es die Verbrechen der Nazis in einem solchen Ausmaß.

Der Philosoph Theodor W. Adorno formulierte Mitte der 1960er Jahre als Reaktion auf diese Erfahrung in seinem Aufsatz „Erziehung nach Auschwitz“ seinen berühmten pädagogischen Imperativ: „Die Forderung, dass Auschwitz nicht noch einmal sei, ist die allererste an Erziehung. Sie geht so sehr jeglicher anderen voran, dass ich weder glaube, sie begründen zu müssen noch zu sollen. Ich kann nicht verstehen, dass man mit ihr bis heute so wenig sich abgegeben hat. Sie zu begründen hätte etwas Ungeheuerliches angesichts des Ungeheuerlichen, das sich zutrug.“

Er formulierte diese Aussage vor dem Hintergrund der Berichte über den Frankfurter Auschwitz-Prozess von 1963 bis 1965. Doch wie kann ein solcher Anspruch Wirklichkeit werden, wenn die gesellschaftliche Erinnerung verblasst? Und daher gilt es immer wieder neu darüber nachzudenken, wie dieser Anspruch mit Leben erfüllt werden kann.

Über die Erinnerungsarbeit hinaus zwingt uns Auschwitz zu philosophischen und anthropologischen Reflexionen. Unter dem, was wesentlich ist und mit den jüngeren Generationen weiterentwickelt werden muss, gibt es das grundlegende Bewusstsein für Verantwortung und die Natur des Menschen. Die schematische Aufteilung der Hölle im Konzentrationslager zwischen menschlichen Opfern und unmenschlichen Henkern lässt uns nicht verstehen und beschreiben, was wirklich passiert ist. Schlimmer noch, es verhindert jede reflexive Arbeit. Wir wissen, dass selbst Häftlinge anderen Häftlingen etwas angetan haben. Es ist auch bekannt, dass die SS-Leute, die zu den schlimmsten Taten im Lager fähig waren, liebevolle Ehemänner und Väter sein konnten. Was ist Normalität, Passivität, Unterwerfung, Mut, Gehorsam, Nützlichkeit usw.? Primo Levi stellte diese Fragen in einem Satz: „Es gibt Monster, aber sie sind zu wenige, um wirklich gefährlich zu sein; die gefährlicheren sind gewöhnliche Menschen (….)“.

Henri Goldbergs Schlussfolgerungen sind: „Wir haben es in der Auseinandersetzung über Auschwitz mit universellen und zeitlosen Problemen zu tun, die direkt angegangen werden müssen. Die Frage ist, wie.“

Was ist heute zu tun?

Auf diese Abschlussfrage hat Esther Bejarano, Überlebende der Konzentrationslager Auschwitz und Ravensbrück, in einem Brief an den Bundespräsidenten, an die Bundeskanzlerin und die Mitglieder des Bundestages ihre Antworten gegeben. Sie hat darin sechs Forderungen gegenüber den Regierenden und allen, die aus der Geschichte lernen wollen, formulierte. Sie schreibt:

Es ist für uns Überlebende unerträglich, wenn heute wieder Naziparolen gebrüllt werden, wenn Menschen durch die Straßen gejagt und bedroht werden, wenn Todeslisten kursieren. Wir wollen uns nicht gewöhnen an Meldungen über antisemitische, rassistische und menschenfeindliche Attacken in Berlin und anderswo, in Halle, wo nur stabile Türen die jüdische Gemeinde schützten, aber zwei Menschen ermordet wurden.

 Was können wir tun?

Ich will, dass wir alle aufstehen, wenn Jüdinnen und Juden, wenn Roma oder Sinti, wenn Geflüchtete, wenn Menschen rassistisch beleidigt oder angegriffen werden!

Ich will, dass ein lautes „Nein“ gesagt wird zu Kriegen, zum Waffenhandel. Wer den letzten Krieg vergisst, der bereitet schon den nächsten vor.

Ich will, dass wir gegen die Ausbeutung der Menschen und unseres Planeten kämpfen, Hilfesuchende solidarisch unterstützen und Geflüchtete aus Seenot retten. Eine Gesellschaft muss sich messen lassen an ihrem Umgang mit den Schwächsten.

Ich fordere entschlossenes Handeln gegen das Treiben der Neonazis, denn trotz Grundgesetz und alledem konnten Abgeordnete einer neurechten Partei vom NS als „Vogelschiss in deutscher Geschichte“ und vom Holocaust-Gedenkort in Berlin als „Denkmal der Schande“ sprechen, konnte der NSU ein Jahrzehnt lang ungestört morden und die Neonazi-Gruppe „Combat 18“ frei agieren.

Ich fordere, dass die Diffamierung von Menschen und Organisationen aufhört, die entschlossen gegen rechts handeln. Was ist gemeinnütziger als Antifaschismus? Es ist auch unerträglich, wenn ein paar Antifa-Aufkleber in Schulen Anlass für Denunziationen über Petz-Portale von neurechten Parteien sind. Niemand sollte für antifaschistisches Handeln, für gemeinsame Aktionen gegen den Hass, gegen alte und neue Nazis diskreditiert und verfolgt werden!

Ich fordere: Der 8. Mai muss ein Feiertag werden! Ein Tag, an dem die Befreiung der Menschheit vom NS-Regime gefeiert werden kann. Das ist überfällig seit sieben Jahrzehnten. Und hilft vielleicht, endlich zu begreifen, dass der 8. Mai 1945 der Tag der Befreiung war, der Niederschlagung des NS-Regimes. Wie viele andere aus den Konzentrationslagern wurde auch ich auf den Todesmarsch getrieben. Erst Anfang Mai wurden wir von amerikanischen und russischen Soldaten befreit. Am 8. Mai wäre dann Gelegenheit, über die großen Hoffnungen der Menschheit nachzudenken: Über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit – und Schwesterlichkeit.

Ich kann mich diesen Forderungen von Esther Bejarano in jeder Form anschließen.

Zum letzten Punkt eine aktuelle Ergänzung:

Heute Nachmittag wurden in Wiesbaden dem hessischen Ministerpräsidenten Bouffier und – mit Ausnahme der AfD – allen Fraktionen im hessischen Landtag ein gemeinsamer Brief des DGB Hessen-Thüringen und der hessischen VVN-BdA übergeben, wo genau diese Forderung – den 8. Mai auch in Hessen zum Feiertag zu erklären – erhoben wird.

Wir sind gespannt auf die politischen Antworten.