27. Januar – Erinnerung an Auschwitz und Leningrad

27. Januar 2024

In diesem Jahr erinnerte die VVN-BdA Kassel mit einer symbolischen Aktion an dem Mahnmal „Die Rampe“ an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz und den 80. Jahrestag der Durchbrechung der Blockade der Stadt Leningrad am 27. Januar 1944.

Die Kundgebung an der Rampe. Foto: Klaus Brocke

Ulrich Schneider hielt für die VVN-BdA den nachfolgenden Redebeitrag:

Wir stehen hier am Mahnmal „Die Rampe“, was uns gemeinsam erinnert an die verheerendste Konsequenz der faschistischen Herrschaft in Deutschland und über Europa, nämlich an die industriell organisierte Massenvernichtung von Menschen, die nicht in die Rasse-Ideologie des deutschen Faschismus passten, Jüdinnen und Juden, Sintizze und Sinti, Romnja und Roma neben anderen Gruppen, die aus der faschistischen „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen waren oder als „Untermenschen“ stigmatisiert wurden.
Eine solche Verfolgung erlebten Millionen in allen vom deutschen Faschismus okkupierten Ländern und führte direkt in die Vernichtungslager, in denen sie ermordet wurden. Auschwitz war nur eines dieser Lager. Zu nennen sind Belzec, Chelmno, Groß-Rosen, Majdanek, Sobibor und weitere vor allem auf polnischem Territorium errichteten Vernichtungsanlagen.
Ihr tödlicher Betrieb endete erst, als es im Verlauf des Krieges den sowjetischen Streitkräften gelang, weiter nach Westen vorzustoßen. Den Schlusspunkt unter die industriellen Massenmorde setzte die Befreiung der verbliebenen Häftlinge des Vernichtungslagers Auschwitz am 27. Januar 1945 durch die sowjetische Armee.
Der faschistische Vernichtungswille war damit aber noch nicht beendet, wie die zahllosen Kriegsende-Verbrechen zeigten, bei denen auch in Kassel noch im März 1945 über 100 Häftlinge und Zwangsarbeiter ermordet wurden.

Die Blockade von Leningrad
In diesem Jahr erinnern wir nicht nur an die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz, sondern auch an den 80. Jahrestag der Befreiung der Stadt Leningrad mit der Durchbrechung der Blockade durch die sowjetische Armee ebenfalls am 27. Januar, jedoch ein Jahr zuvor, 1944.

In den Welteroberungsplänen des deutschen Faschismus nahm der Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 einen besonderen Platz ein. Es ging um die Rohstoffreserven der UdSSR und die industriellen Kapazitäten im Westen der Sowjetunion. Im „Fall Barbarossa“ waren diese Ressource fest eingeplant, um einen Krieg gegen die UdSSR überhaupt führen zu können. Das nach Osten vorrückende Millionenheer sollte sich aus den Vorräten der örtlichen Bevölkerung versorgen und damit den dort lebenden Menschen, die als „slawische Untermenschen“ betrachtet wurden, die Lebensgrundlage nehmen. Zudem war es ein ideologisch motivierter Vernichtungskrieg gegen den „jüdisch-bolschewistischen“ Feind.

Ende August 1941 erreichten die faschistischen Heere Leningrad. Erobern konnten sie die Stadt nicht. Am 8. September wurde der Blockadering geschlossen. Damit war die Großstadt, in der damals rund drei Millionen Menschen lebten, im Süden durch deutsche Truppen und ihre Verbündeten, im Norden von finnischen Einheiten blockiert. Nur über den im Osten gelegenen Ladogasee konnten zeitweise und unter großen Gefahren Lebensmittel und andere Versorgungsgüter in die Stadt gebracht werden. Die Blockade von Leningrad und das Aushungern der Bewohner war Teil der verbrecherischen Kriegsführung der Nazis in Osteuropa, die mit dem Begriff „Vernichtungskrieg“ treffend charakterisiert wird. Vor über zwanzig Jahren sprach der Jenaer Historiker Jörg Ganzenmüller von einem „Genozid durch bloßes Nichtstun“. Tatsächlich starben mehr als eine Million Menschen während der Belagerung an Hunger und Mangelernährung. Zum Vergleich, auch in Auschwitz wurden im Rahmen der industriellen Massenvernichtung 1,1 Mio. Menschen ermordet.

Dennoch haben die Menschen in Leningrad knapp drei Jahre der faschistischen Bestie widerstanden und ein sichtbares Zeichen gesetzt, dass die „unbesiegbare“ Wehrmacht an ihre Grenzen stößt. Der Überlebenskampf der Einwohner und der sowjetischen Armee, die im Winter die Versorgung der Menschen über die zugefrorene Ostsee organisierte und die im Januar 1944 den Blockade-Ring sprengen konnte, sind unvergessen.

Fehlende Entschädigung
Ein ganz eigenes skandalöses Kapitel ist der Umgang mit den Opfern des faschistischen Vernichtungskrieges und ihren Angehörigen durch die Bundesrepublik Deutschland. Seit Jahrzehnten lehnt die Bundesregierung jegliche Zahlung individueller Entschädigungen an nichtjüdische Bürger der damaligen Sowjetunion bzw. des heutigen Russlands grundsätzlich ab.
In einem offenen Brief an die Bundesregierung vom Herbst letzten Jahres beklagen die letzten Überlebenden der Blockade: „Mittlerweile sind wir weniger als Sechzigtausend, alles Menschen verschiedener Nationalitäten, die die Gräuel der belagerten Stadt überlebten.“ Sie verurteilen die Weigerung Berlins, eine für jüdische Überlebende zugesagte Entschädigung „auf alle heute noch lebenden Blockade-Opfer ohne Ansehen ihrer ethnischen Zugehörigkeit auszuweiten“. Schließlich hätten die deutschen Hungermordpläne „keine Ausnahmen aufgrund von Nationalität“ vorgesehen. „Wir appellieren an die deutsche Bundesregierung, die einzig richtige Entscheidung nicht hinauszuzögern und die humanitären Auszahlungen auf ausnahmslos alle Blockade-Überlebenden auszuweiten.“ Soweit die Erklärung der Überlebenden.
Wir als VVN-BdA verbinden daher das heutige Gedenken zum 27. Januar mit der Erinnerung an die Opfer der Blockade von Leningrad und unterstützen die berechtigten Forderungen der Überlebenden

In diesem Zusammenhang möchte ich noch zwei weitere Gedanken anfügen.
Wir erleben nicht nur einen skandalösen Umgang mit der Entschädigung, sondern vergessen auch nicht die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen um die Erinnerung an diese Verbrechen des deutschen Faschismus.
Und wenn wir heute ganz selbstverständlich den Begriff der „Befreiung“ benutzen, dann erinnern wir auch daran, dass dieser Begriff jahrzehntelang für die bundesdeutsche Mehrheitsgesellschaft tabu war.
Die meisten Nachgeborenen wissen nicht mehr, dass es die Frauen und Männer aus Widerstand und Verfolgung, die Zeitzeugen, waren, die um diesen Begriff politisch gekämpft haben.
Erst 1985 benutzte zum ersten Mal ein deutscher Bundespräsident, nämlich Richard von Weizsäcker diese Begrifflichkeit als es um den 8. Mai 1945 ging. Bis dahin sprachen die meisten Politiker in der BRD von Niederlage, Kapitulation oder Katastrophe – aber nicht davon, dass an diesem Tag auch die deutsche Bevölkerung vom Faschismus befreit wurde, selbst diejenigen, die noch bis 5 Minuten nach 12 „in Treue fest“ mit dem NS-Regime verbunden waren.
Die Verbrechen von Auschwitz war man in Deutschland auch erst bereit anzuerkennen, als der Frankfurter Auschwitzprozess unwiderlegbare Beweise für Taten und Täter öffentlich machte.
Ja, Bundespräsident Roman Herzog erklärte als einer der ersten Vertreter eines Staates den 27. Januar – verbunden mit der Befreiung von Auschwitz – zum Gedenktag für alle Opfer des Nationalsozialismus. Aber bis heute vermisse ich eine klare Aussage der politisch Verantwortlichen, dass der 27. Januar auch der Gedenktag für die Opfer der Leningrad-Blockade sein müsste.

Und mein zweiter Gedanke fragt:
Was sind die politischen Konsequenzen für heute?
Wenn wir heute an der „Rampe“ an diese Ereignisse und die Opfer der faschistischen Massenverbrechen erinnern, dann können wir selbstverständlich nicht die Augen vor der heutigen Situation verschließen.
Die Massendemonstrationen der vergangenen Wochen, die großartige Aktion am vergangenen Samstag und die weiteren geplanten Aktionen zeigen uns, dass in Teilen der Bevölkerung das Erschrecken gegenüber der politischen Rechtsentwicklung und dem Vormarsch der AfD groß ist und man tatsächlich das Gefühl hat, man müsse etwas tun. Und das ist gut so.
Bei der hessischen Landtagswahl haben wir aber erlebt, dass es auch in unserer Stadt viele Menschen gibt, die sich überhaupt nicht mehr den gesellschaftlichen Debatten stellen, sondern ihrer diffusen Unzufriedenheit Raum geben, indem sie die extremen Rechten unterstützen.
Unsere Aufgabe ist es daher, immer wieder in der Öffentlichkeit – und auch mit einem solchen Gedenken – Zeichen zu setzen gegen den Vormarsch der AfD, die mit ihrem Geschichtsrevisionismus genau diese Erinnerungspolitik als „Schuldkult“ denunziert und ein anderes völkisch-nationalistisches Geschichtsverständnis etablieren will. Für uns gibt es keinen Zweifel: „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen“.

Umso erschreckender ist es, dass z.B. im sächsischen Freital heute ein AfD-Vertreter im Kommunalparlament die „Gedenkrede“ zum 27. Januar halten soll oder an anderen Orten die AfD ganz offiziell Teil der städtischen Gedenkveranstaltungen sein soll. Natürlich kann ich es nur begrüßen, wenn sich AfD-Parlamentarier historische Wahrheiten über die Ergebnisse der faschistischen Herrschaft an der Macht anhören müssen. Aber es ist schiere Heuchelei, wenn man ihnen gestattet, sich der „gesellschaftlichen Trauer“ anzuschließen, solange ihre Repräsentanten demagogisch gegen den „Schuldkult“ vom Leder ziehen.

Die Enthüllung der Deportationspläne haben die menschenverachte Ideologie der AfD in den Fokus der öffentlichen Debatte gebracht, neu ist diese Erkenntnis jedoch nicht. Schon in ihrem Grundsatzprogramm ist sie als völkisch-nationalistische Partei zu erkennen. Daher verbinden wir unser historisches Gedenken der Opfer faschistischer Verbrechen mit der politischen Lehren des 27. Januar, die für uns bedeutet:
Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!, wie es die Überlebenden 1945 sich versprochen haben.
Einzugreifen, wenn Menschen jüdischen Glaubens, Muslime, Roma und Sinti und andere, die nicht in das Weltbild von Nazis passen, beleidigt und angegriffen werden. Aber auch einzugreifen, wenn staatliche Stellen das Grundrecht auf Asyl und die Hilfe für Flüchtlinge unzulässig einschränken wollen.
Alles zu unterstützen, um die AfD und andere extrem rechte Propagandisten in ihren öffentlichen Auftritten einzuschränken. Und gesellschaftliche Gegensignale für eine demokratische, sozial gerechte und weltoffene Gesellschaft zu senden. Und dabei hilft auch unsere historische Erinnerungsarbeit!