80 Jahre Antikriegstag: Ansprache zum 1. September 2019

1. September 2019

, ,

Der Auftakt der Gedenkveranstaltung in Kassel fand im Ehrenmal für die Opfer des Faschismus statt. Dr. Ulrich Schneider hielt dort für die VVN-BdA Kassel nachfolgende Ansprache:

Ihr alle wisst, dass vor 80 Jahren, am 1.September 1939 mit der Behauptung: „Seit 5 Uhr 45 wird zurückgeschossen“ der Zweite Weltkrieg mit einer Propagandalüge begonnen wurde. Abgesehen davon, dass bereits eine Stunde früher die faschistischen Truppen ihre Kampfhandlungen gegen das polnische Territorium begonnen hatten, waren alle angeführten Behauptungen, wie „polnische Grenzverletzungen“ oder der angebliche Überfall auf den Sender Gleiwitz inszenierte Propagandaaktionen der deutschen Faschisten. Besonders zynisch war es, dass bei der Gleiwitz-Aktion KZ-Häftlinge in polnische Uniform gesteckt und vor Ort ermordet wurden, um eine angebliche Bedrohung des Deutschen Reiches zu dokumentieren.

Interessant an diesem Vorgang ist für uns heute eigentlich nur, dass sich der deutsche Faschismus damals gezwungen sah, ein solches propagandistisches Bedrohungsszenario aufzubauen, um die längst geplanten, strategisch und praktisch ausgearbeiteten Schritte der Expansionspolitik gegenüber der eigenen Bevölkerung und der internationalen Öffentlichkeit zu legitimieren.

Und wie langfristig solche Propaganda vorbereitet wurde, zeigt sich in der Geschichte der Stadt Kassel deutlich. Seit 1935 trug die Stadt den faschistischen „Ehrennamen“ „Stadt der Reichskriegertage“ und war damit jährlich Aufmarschplatz für alle Ewig-Gestrigen, die gewillt waren, die Ergebnisse des Ersten Weltkriegs militärisch zu revidieren. Auf dem Friedrichsplatz trafen ehemalige Frontkämpfer in Marschformation zusammen und bekräftigten, dass sie den Versailler Vertrag so schnell wie möglich überwinden wollten.

Noch wenige Monate vor dem Überfall auf Polen, nämlich vom 2. bis 4. Juni 1939 hatte die NSDAP ihren so genannten „1. Großdeutsche Reichskriegertag“ in Kassel inszeniert, fast 300.000 Soldaten aus dem Deutschen Reich, aus Österreich und aus der Henlein-Bewegung im Sudetenland, Veteranen des Ersten Weltkriegs und der neuen Wehrmacht marschierten in der Stadt auf. Hitler ließ es sich nicht nehmen, diese Inszenierung zum Anlass für seinen Auftritt zu suchen.

Seine Propaganda-Rede zielte in diesem Fall besonders gegen Großbritannien, dem er „den Raub deutscher Kolonien“ vorwarf. Selbst wenn bei diesen Gelegenheiten das Wort „Frieden“ öffentlich geäußert wurde, so bedeuteten doch die Forderungen nach „Gleichberechtigung mit England und Frankreich“ nichts anderes als militaristische Machtansprüche gegenüber den Nachbarländern. Auch ausländische Verbündete wie der japanische Botschafter und Militärattachés aus Ungarn und Finnland konnten in Kassel die deutliche Ankündigung deutscher imperialistischer Expansionsziele vernehmen.

Und es blieb bekanntlich nicht bei „starken Worten“. Denn in Kassel befanden sich zentrale Produktionsorte für Rüstungsgüter – genannt seien nur die Militärfahrzeug- und Panzerproduktionen bei Henschel, Bode, Wegmann und Crede sowie das im Krieg errichtete Werk für Henschel Flugmotoren, dem Gebäude des heutigen VW-Werks in Baunatal. Aber auch die Spinnfaser AG und die optischen Werke sowie die Fieseler-Flugzeugwerke am Waldauer Flugplatz produzierten vorrangig für die Kriegsvorbereitung. Zudem war Kassel ein logistisches Zentrum, man könnte auch sagen, ein Drehkreuz der Truppenbewegung und der Transporte von Militärgütern zwischen der West- und Ost oder vom Produktionsort Ruhrgebiet an die verschiedenen Frontabschnitte.

Die Konsequenzen mussten die Menschen in Kassel im Oktober 1943 erleiden, als die Innenstadt während des großen Bombardements weitgehend zerstört wurde.

Aber nicht nur die Produktion und Infrastruktur, auch die Kriegsplanung für den Überfall auf Polen hatte seinen Ort in Kassel. Die militär-strategischen Planungen für den Fall „Weiß“ wurden hier in Kassel umgesetzt, im Oberkommando der Wehrmacht, das seinen Sitz im Generalkommando beim Bahnhof Wilhelmshöhe hatte. Zur unmittelbaren Kriegsvorbereitung hatte man diesen Bau als Zentrale des Heeres Ende der 30er Jahre neu errichten lassen. Im Mai 1938 konnte es bezogen werden und mit seinen 600 Zimmern und sieben großen Sitzungssälen gab es nun genügend Platz für Sandkastenspiele zur Einsatzplanung beim Überfall auf Polen, dem Fall „Weiß“, dem geplanten Überfall auf Frankreich, Belgien und die Niederlande, dem Fall „Grün“, oder zum Einsatz der Heereseinheiten beim Überfall auf die Sowjetunion, dem Fall „Barbarossa“.

Zwei Fakten möchte ich in diesem Zusammenhang besonders hervorheben:
1. Die militär-strategischen Planungen des OKH für den Überfall auf Polen waren bereits am 15. Juni 1939  – also gut 10 Tage nach dem „Großdeutschen Reichskriegertag“ in Kassel – abgeschlossen. Darin waren die beteiligten Militäreinheiten, die Aufmarschgebiete, die geplanten Richtungen des militärischen Vormarsches und der Umgang mit den besetzten polnischen Gebieten und der Zivilbevölkerung bereits festgelegt. Auch das Zeitfenster für den Überfall (Spätsommer 1939) war darin seitens der Obersten Heeresleitung bestätigt. Das einzige, was für den Überfall noch fehlte, war die Festlegung des konkreten Angriffstermins. Es gab in diesen Planungen keine Option der Erfüllung von „Teilforderungen“, wie sie noch im Münchener Diktat im Herbst 1938 gegenüber der CSR mit Unterstützung der britischen und französischen Regierung durchgesetzt wurde. Polen sollte überfallen und besetzt werden.

2. Hitler selbst hat dies in einer Ansprache vor den Oberbefehlshabern der Wehrmacht am 22. August 1939 auf dem Obersalzberg mit folgenden drastischen Worten formuliert: „Ich habe den Befehl gegeben, … dass das Kriegsziel nicht im Erreichen von bestimmten Linien, sondern in der physischen Vernichtung des Gegners besteht. So habe ich, einstweilen nur im Osten, meine Totenkopfverbände bereitgestellt mit dem Befehl, unbarmherzig und mitleidlos Mann, Weib und Kind polnischer Abstammung und Sprache in den Tod zu schicken. Nur so gewinnen wir den Lebensraum, den wir brauchen. … Polen wird entvölkert und mit Deutschen besiedelt.“

Von daher sind alle Behauptungen, die man in den vergangenen Tagen wieder in zahlreichen Medien lesen konnte, dass der Krieg erst mit dem am 23./24. August 1939 geschlossenen deutsch-sowjetischen Nichtangriffsvertrag, dem so genannten „Hitler-Stalin-Pakt“ möglich geworden sei, eine Geschichtsklitterung, die die Verantwortung für den Überfall den beiden „totalitären“ Staaten zuweisen soll.
Warum es nicht zu einer kollektiven Sicherheitsgarantie der Staaten Großbritannien, Frankreich und der Sowjetunion für Polen kam, ist hinreichend wissenschaftlich erforscht. Diese Erkenntnisse ändern aber nichts an der klaren Aussage, dass für den Überfall auf Polen einzig und allein der deutsche Faschismus in seinem Expansionsdrang die Verantwortung trägt.

Und einen weiteren Gedanken möchte ich im Zusammenhang mit der Kriegsvorbereitung im Generalkommando in Kassel noch aufgreifen. Beteiligt an den Kriegsplanungen waren auch Offiziere, die noch vor wenigen Wochen als „Helden des Widerstandes“ anlässlich des 75.Jahrestages des 20.Juli 1944 geehrt wurden. So wichtig dieses – leider gescheiterte – Attentat von Claus Schenk Graf von Stauffenberg auf Adolf Hitler für die deutsche Geschichte auch ist, es sollte nicht vergessen werden, dass in ihrem militärischen Teil besonders diejenigen daran beteiligt waren, die selbst aktiv an dieser Kriegspolitik mitgewirkt hatten. Erst als die militärische Überlegenheit der alliierten Truppen besonders durch die Bombardierung der deutschen Städte für alle offenkundig wurde, sich die alliierten Truppen beginnend nach Stalingrad vom Osten und mit der Landung in der Normandie vom Westen auf deutsches Territorium zu bewegten, entwickelte sich Skepsis, Hilflosigkeit, jedoch viel zu wenig Widerstand gegen das faschistische Regime.

Aber – darauf möchte ich an diesem Ort, dem Mahnmal für die Opfer des Faschismus, in aller Deutlichkeit hinweisen – es gab im Deutschen Reich schon vorher – auch in der NS-Zeit – Kriegsgegner. Zumeist waren es einfache Frauen und Männer, vorwiegend aus der Arbeiterbewegung, die nicht erst gegen den Krieg kämpften, als er verloren war. Sozialdemokraten und Kommunisten hatten vor 1933 gewarnt: „Wer Hitler wählt, wählt Krieg“. Nun klärten sie unter größtem Risiko der Verfolgung die Bevölkerung über die faschistische Kriegsvorbereitung auf, warnten vor den Folgen der Aufrüstungspolitik und möglicher militärischer Abenteuer.

Als Beispiel für deren Handeln möchte ich aus einem Flugblatt zitieren, das ein „Aktionsausschuss deutscher Sozialdemokraten und Kommunisten“ im Herbst 1939 in Deutschland verbreitete. Darin heißt es: Die Hitler – Regierung habe „planmäßig auf diesen Krieg hingearbeitet! Der Hitlerregierung allein fällt dieser neue Weltkrieg (denn ein solcher wird es werden) zur Last!
Jetzt kann Deutschland nur noch durch das Volk selbst gerettet werden! Ein Sieg Deutschlands ist ausgeschlossen gegen die Übermacht der ganzen übrigen Welt. Die Niederlage und der Zusammenbruch sind unabwendbar. … Daher muss gleich zu Beginn des Krieges das Denken und Handeln jedes verantwortungsvollen Deutschen beseelt sein von dem alle umfassenden Ziel: Sofortigen und schnellsten Schluss mit dem verbrecherischen Hitler-Krieg, der unser Land und Volk zu vernichten droht!“

Auch in Kassel gab es solche Kriegsgegner. Ich möchte nur einige wenige von ihnen nennen, die ich zum Teil noch persönlich kennen lernen durfte: Franz Buda, Willi Belz, Henner Bischoff, Karl Kuba, Max Mayr, Georg Merle, Erna und Willi Paul, Fritz Schmidt, Hans Spill und Willi Walberg.

Sie alle sind Teil einer Tradition, die zu den besten Teilen der Kasseler Geschichte gehört. Sie bewiesen durch ihre Haltung und ihr Handeln, dass Kassel nicht nur die Stadt der Tiger-Panzer und der Fieseler-Flugzeuge, die Stadt der Kriegsplanung und Kriegsvorbereitung war. Es sollte auch ein Anliegen der Friedensbewegung sein, dass deren Andenken nicht vergessen wird.

Und wenn wir anlässlich des Antikriegstages die Losung des Jahres 1945 wiederholen: „Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!“, dann haben wir auch die Verpflichtung uns an die Frauen und Männer zu erinnern, die sich unter Einsatz ihrer Freiheit, ihrer Gesundheit und manchmal auch ihres Lebens dem NS-Regime und dem Krieg widersetzten.