VVN-BdA Hessen fordert klare Aussagen des Hessischen Landtags zum Lübcke-Mord

16. Juli 2023

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Nun liegen der offizielle Abschlussbericht zum Lübcke-Untersuchungsausschuss und die Sondervoten der Fraktionen vor. Nach Sichtung dieser Unterlagen fordert die VVN-BdA klare Aussagen des Landtages:

  1. Es gibt keinen Zweifel, dass die staatliche Instution, die vorgeblich zum „Schutz der Verfassung“ ein-
    gerichtet ist, ihrer Verantwortung nicht gerecht geworden ist. Nicht nur, dass sie den späteren Mörder Ernst und seinen Kumpanen Hartmann als „nicht mehr gefährliche Rechtsextreme“ abgetan haben. Man hat auch das radikalisierende Umfeld der „Kagida“-Bewegung und die zunehmend aufgeheizte Hetze gegen den Regierungspräsidenten überhaupt nicht im Blick gehabt.
  2. Hätte diese Instution ihren politischen Auftrag gegenüber der extremen Rechten tatsächlich wahrge-
    nommen und sich nicht vorrangig mit der Beobachtung z.B. der Antifaschistin Silvia Gingold oder mit
    vorgeblichen „Linksextremisten“ in der Klima-Bewegung beschäftigt, dann hätte der Mord möglicherweise verhindert werden können.
  3. Zum Umfeld der rassistischen Hetze, das Ernst in seinem Mordvorhaben bestärkt hat, gehört die AfD,
    für die Ernst nicht nur im Wahlkampf tätig war, sondern die mit führenden Funktionären aktiv beteiligt war an den „Kagida“-Aufmärschen.
  4. Verantwortung für dieses Versagen trägt der Verfassungsschutz, die politische Verantwortung liegt
    aber beim hessischen Innenminister. Wir erinnern daran, dass schon bei dem Mord an Halit Yozgat im Zuge der NSU-Morde der Verfassungsschutz und der damalige hessische Innenminister eine verhängnisvolle Rolle in der Aufklärungsarbeit gespielt haben. Dem Verfassungsschutzmitarbeiter Andreas Temme wurde ein Aussageverweigerungsrecht eingeräumt, obwohl er während des Mordes am Tatort anwesend war.

Sollten diese Punkte aus Gründen der „Regierungsräson“ nicht in aller Klarheit benannt werden, zeigen die hessischen Regierungsparteien, dass sie nicht bereit sind, dieses abscheuliche Verbrechen in seiner ganzen politischen Dimension aufzuarbeiten – obwohl Dr. Walter Lübcke Mitglied der CDU war und die Partei „Die Grünen“ mehrfach öffentlich bekundet hat, dass sie sich für eine vorbehaltlose Aufklärung einsetzen will.

Zum Urteil im Dresdener Antifa-Prozess

2. Juni 2023

Die VVN-BdA ist empört über das Urteil des Dresdener Oberlandesgerichts im Fall der angeklagten Antifaschistin Lina E und ihrer Mitangeklagten. Über fünf Jahre Haft für sie als „Rädelsführerin“ einer „kriminellen Vereinigung“ ist ein Urteil, das nicht nur bezogen auf die Vorwürfe überzogen ist, sondern angesichts des Prozessverlaufs nur als skandalös zu bezeichnen ist.

Es ist ungeheuerlich, dass der Senat um Richter Hans Schlüter-Staats ein solch drastisches Urteil auf der Basis von Indizien, haltloser Aussagen militanter Neonazis und eines dubiosen Kronzeugen fällte. Vor Gericht kamen immer wieder grundlegende Zweifel an der Arbeit der Bundesanwaltschaft auf, die den Fall an sich gezogen hatte. Falsche Interpretationen von vorgelegten Materialien, widersprüchliche Aussagen und fehlende Beweise prägten das Verfahren. Es gab lediglich ein Konvolut an Indizien, die als »Belege« für die Täterschaft von Lina E. angeführt wurden: Nicht einmal DNA-Spuren konnten eindeutig zugeordnet werden, ein Foto vom Tatort bei Lina E. wurde als Beleg ihrer Anwesenheit gerechnet. Auch der Kronzeuge Johannes Domhöver konnte nichts Substanzielles beitragen. Vielmehr ist es erkennbar, dass er seinen Freispruch erkauft hat mit einer Aussage, die die Vorwürfe der Bundesanwaltschaft stützen sollten. Aussagen militanter Neonazis wurde Glauben geschenkt – „Zeugen“, die in einem eigenen Prozess in Eisenach wegen krimineller Handlungen verurteilt wurden.
Selbst die Bundesanwaltschaft musste eingestehen, »nicht den einen, erdrückenden Beweis« zu haben. Trotzdem forderte sie acht Jahre Haft. Für sie sei es »die Gesamtschau«, die die Vorwürfe erhärtete. Die Verteidigung hat vollkommen zurecht das Vorgehen der Dresdner Justiz als politisch motiviert beschrieben. Es ist ein Gesinnungsurteil, dass ein Exempel gegen (militanten) Antifaschismus statuieren soll.

Dieses Urteil weckt unliebsame Erinnerungen an die Justiz in der Endphase der Weimarer Republik, als bei Auseinandersetzungen zwischen Nazis und Nazigegnern in aller Regel die Antifaschisten mit schweren Verurteilungen rechnen mussten, während die SA und andere gewalttätige Nazis mit Milde der Richter rechnen konnten.

Wenn Innenministerin Nancy Faeser angesichts des Urteils betont, dass es auch im Handeln gegen Neonazis keine Selbstjustiz geben dürfe, da solch ein Verhalten das Vertrauen in den Rechtstaat beschädige, dann betonen wir, dass dieses Urteil in noch viel größerem Maße das Vertrauen in die Justiz und die Regeln des Rechtstaates beschädigt. Wir erwarten, dass bei einer rechtlichen Prüfung dieses Urteil aufgehoben wird.

8. Mai 1945 – 2023: Ansprache am Mahnmal „Die Rampe“

8. Mai 2023

In diesem Jahr fanden in Kassel zwei Gedenkaktionen statt. Um 12:00 h kamen etwa 50 Studierende am Mahnmal „die Rampe“ zusammen, um 16:00 h gut 100 Bürgerinnen und Bürger aus Kassel im Ehrenmal für die Opfer des Faschismus. Es waren zwei würdige öffentliche Formen des Gedenkens und Erinnerns. Der Vertreter der Kasseler Kreisvereinigung der VVN-BdA war auf beiden Veranstaltungen als Sprecher eingeladen. Hier die Ansprache:

Gedenkaktion im Ehrenmal, Foto: Klaus Brocke

Ich spreche hier als Vertreter der VVN-BdA, einer Organisation, die vor über 75 Jahren von Frauen und Männern aus dem antifaschistischen Widerstand, Verfolgten und Überlebenden der faschistischen Haftstätten gegründet wurde, in der heute die Generation der nachgeborenen Antifaschistinnen und Antifaschisten das politische Vermächtnis bewahren und in die heutige Zeit übersetzen.

Wir stehen hier an dem Mahnmal „Die Rampe“, was uns gemeinsam erinnert an die verheerendste Konsequenz der faschistischen Herrschaft in Deutschland und über Europa, nämlich an die industriell organisierte Massenvernichtung von Menschen, die nicht in die Rasse-Ideologie der faschistischen Herrschaft passten, Jüdinnen und Juden, Sinti*zze und Sinti, Romnja und Roma neben anderen Gruppen, die aus der faschistischen „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen wurden.

Wir erinnern hier üblicherweise am 27. Januar, also an dem Tag der Befreiung dieses Vernichtungslagers durch die militärischen Einheiten der sowjetischen Armee 1945.

Heute erinnern wir an den „Tag der Befreiung von Faschismus und Krieg“. Selbst wenn uns allen heute diese Formulierung so leicht von den Lippen geht, so möchte ich doch daran erinnern, welcher politischen Auseinandersetzungen es bedurfte, den 8. Mai in der BRD tatsächlich als „Befreiung“ zu benennen. Erst 1985 benutzte zum ersten Mal ein deutscher Bundespräsident, nämlich Richard von Weizsäcker diese Begrifflichkeit. Bis dahin sprachen die meisten Politiker in der BRD von Niederlage, Kapitulation oder Katastrophe – aber nicht davon, dass an diesem Tag auch die deutsche Bevölkerung vom Faschismus befreit wurde, selbst diejenigen, die noch bis 5 Minuten nach 12 „in Treue fest“ mit dem NS-Regime verbunden waren.

Es waren insbesondere die Frauen und Männer aus dem antifaschistischen Widerstand, die Überlebenden des faschistischen Terrors, die diesen Tag tatsächlich als Befreiung erlebten.

In Kassel hatte die Befreiung durch die alliierten Streitkräfte bereits einige Wochen vorher stattgefunden. Es waren die Ostertage 1945, als amerikanische Einheiten das Kasseler Becken erreichten und nach wenigen Tagen den letzten Widerstand von Wehrmacht, Volkssturm und SS-Verbänden zerschlugen. Am 4. April 1945 kapitulierten die letzten Wehrmachtseinheiten, nachdem sie noch mehrere Tage – also bis 5 Minuten nach 12 – unsinnigen Widerstand geleistet hatten und damit den Tod weiterer Menschen zu verantworten hatten.

Sie hatten mit diesem militärischen Widerstand auch zu verantworten, dass in den letzten Stunden vor der Befreiung der Stadt die Gestapo und SS noch drei Verbrechen begehen konnten. Sie ermordeten am Karfreitag 1945 zwölf Häftlinge des Zuchthaus Wehlheiden, darunter Wolfgang Schönfeld, der 1944 als Deserteur verhaftet worden war, ohne irgendein Urteil auf dem Wehlheider Friedhof.

Sie ermordeten am Ostersamstag 78 italienische Zwangsarbeiter und einen sowjetischen Häftling angeblich wegen Plünderung – sie hatten sich aus einem aufgebrochenen Wehrmachtstransport auf dem Bahnhof Wilhelmshöhe Lebensmittel genommen. Sie wurden ebenfalls standrechtlich erschossen. Verantwortlich war in beiden Fällen der Leiter der Kasseler Gestapo Franz Marmon. Auf seinen Befehl hin wurden ebenfalls am Ostersamstag 28 Häftlinge des Arbeitserziehungslagers Breitenau, darunter 16 sowjetische, 10 französische und 2 niederländische Gefangene von SS-Leuten in den Fuldabergen bei Guxhagen ermordet.

Es scheint mir heute wieder nötig zu sein, an diese Verbrechen zu erinnern, um die Perspektive, die mancher Zeitgenosse mit dem Kriegsende verbindet, die „Deutschen seien doch auch Opfer gewesen“, deutlich zu relativieren.

Die Frauen und Männer aus dem antifaschistischen Widerstand, die Überlebenden des faschistischen Terrors, verstanden den 8. Mai auch deshalb als Befreiung, weil er ihnen den Weg zum Aufbau einer antifaschistisch-demokratischen und friedlichen Gesellschaft eröffnete. Auch hier in Kassel entstanden in den Betrieben und Stadtteilen „antifaschistische Komitees“, die von Angehörigen der Arbeiterparteien und Gewerkschaften und einigen liberalen Bürgern getragen wurden. Sie setzten sich nicht nur ein für die Beseitigung der Trümmer und die Reorganisation des alltäglichen Lebens, sondern auch für politische Konsequenzen, die ausgehend von der Losung „Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!“ einen tatsächlichen Neubeginn ermöglichen sollten.

Die politische Losung „Nie wieder Krieg!“ haben beispielsweise die Arbeiter in Kassel konkret übersetzt mit „Nie wieder ‚Tiger-Stadt‘!“. Und als im Deutschen Bundestag über die Remilitarisierung diskutiert wurde, kam es in Kassel zum ersten politischen Streik, als die Arbeiter von Henschel und anderen Unternehmen spontan auf die Straße gingen und gegen die Wiederaufrüstung protestierten. Wir alle wissen, dass dieser politische Widerstand nicht von Erfolg gekrönt war.

Umso dringender ist es für mich, in Erinnerung an den Jahrestag der Befreiung der Stadt und der damaligen Verpflichtung „Nie wieder Krieg!“ heute für ein Ende der Kriegsproduktion in unserer Stadt und für Rüstungskonversion einzutreten. Natürlich wusste man damals und wissen wir heute, dass mit Rüstung enorme Profite gemacht werden. Aber damals war es auch im allgemeinen Bewusstsein, dass solche Profite Blutgeld sind – bezahlt mit dem millionenfachen Tod der Zivilbevölkerung, mit den Opfern auch in dieser Stadt. Und dies gilt gerade auch in Zeiten des Krieges in der Ukraine, bei dem deutsche Rüstungskonzerne, wie zum Beispiel KMW in Kassel bereits extreme Profite einkalkulieren.

Und wir sollten auch die zweite Losung des 8. Mai 1945 nicht vergessen: „Nie wieder Faschismus!“ Natürlich wissen wir, dass ein faschistisches Regime nicht vor der Tür steht, aber wenn wir heute den Tag der Befreiung begehen, müssen wir auch daran erinnern, dass vor 17 Jahren der neofaschistische Mordterror des Netzwerkes des NSU in Kassel zugeschlagen hat. Halit Yozgat wurde am 6. April 2006 in Kassel ermordet. Und es ist nur kurze Zeit her, als Anfang Juni 2019 der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke von dem Neofaschisten Stefan Ernst und seinem Komplizen brutal ermordet wurde. Das sind nur zwei blutige Beispiele, die unsere Losung bestätigen „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen“.

Und in diesem Sinne ist und bleibt für uns der 8. Mai der Tag der Befreiung, aber auch ein Tag der Mahnung und der Selbstverpflichtung, das Vermächtnis der Überlebenden politisch fortzusetzen.

Und damit sich das nicht an „runden Jahrestagen“ und in Sonntagsreden ausdrückt, hat die Auschwitz Überlebenden Esther Bejarano, die leider vor einiger Zeit verstorben ist, im Januar 2020 eine Petition auf den Weg gebracht „Der 8. Mai muss Feiertag werden“. Bis Mitte vergangenen Jahres hatten mehr als 175.000 Menschen diese online-Petition unterstützt. In einer Zwischenbilanz wurden die ersten 100.000 Unterschriften an den Deutschen Bundestag übergeben. Mit dem Abschluss der Petition wurde die Liste der 175.000 den politisch Verantwortlichen in Person des damaligen Bundesratspräsidenten, Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow, offiziell überreicht.

Die politischen Lehren des 8. Mai umzusetzen, bedeutet für uns heute:

– AfD, NPD und ihre Verbündeten aufzuhalten – und natürlich solche Provokationen, wie den Auftritt Höckes am heutigen Tag in Weimar,

– das Treiben gewalttätiger und mordender Neonazis zu unterbinden, ihre Netzwerke in Polizei und Bundeswehr aufzudecken und aufzulösen,

– einzugreifen, wenn Menschen jüdischen Glaubens, Muslime, Roma und Sinti und andere, die nicht in das Weltbild von Nazis passen, beleidigt und angegriffen werden,

– die Logik des Militärischen zu durchbrechen und Waffenexporte zu verhindern und

– die Diffamierung und Behinderung demokratischer und antifaschistischer Initiativen und Verbände durch Geheimdienste und andere staatliche Einrichtungen zu beenden.

In diesem Sinne forderte Esther Bejarano: „Der 8. Mai muss ein Feiertag werden! Ein Tag, an dem die Befreiung der Menschheit vom NS-Regime gefeiert werden kann. Das ist überfällig seit sieben Jahrzehnten.“ Das galt 2020, als sie ihren offenen Brief formulierte, und gilt heute und morgen.

8. Mai muss Feiertag werden – Gedenken in Kassel

1. Mai 2023

Der 8. Mai 1945 ist und bleibt für uns der Tag der Befreiung von Faschismus und Krieg; auch vor dem Hintergrund des Krieges in der Ukraine. Wir erinnern am 8. Mai an den Beitrag aller Kräfte der Anti-Hitler-Koalition für die Befreiung Deutschlands.
Vor drei Jahren forderte die Auschwitz-Überlebende und inzwischen verstorbene
Esther Bejarano:
„Der 8. Mai muss ein Feiertag werden! Ein Tag, an dem die Befreiung der Menschheit vom NS-Regime gefeiert werden kann. Das ist überfällig, seit sieben Jahrzehnten. … Am 8. Mai wäre dann Gelegenheit, über die großen Hoffnungen der Menschheit nachzudenken: Über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit
– und Schwesterlichkeit.“
Dieser Appell ist für uns gerade in der heutigen Zeit aktuell. Der 8. Mai steht für uns auch für ein Erinnern an das politische Vermächtnis der Überlebenden und an den antifaschistisch-demokratischen Neubeginn in unserem Land.

In Kassel finden am 8. Mai 2023 zwei öffentliche Gedenkaktionen statt, auf die wir gleichermaßen hinweisen möchten.
Eine studentische Erinnerungsinitiative lädt um 12:00 h ein zum
Erinnern an den „Tag der Befreiung“
am Mahnmal „Die Rampe“

in der Moritzstraße
Am Nachmittag findet um 16:00 h ein
öffentliches Gedenken
im Mahnmal für die Opfer des Faschismus,

Kassel, Fürstengarten, Weinbergstraße
statt.
Dort erinnern wir in kurzen Biographien an Frauen und Männer aus dem antifaschistischen
Widerstand, die oftmals mit ihrem Leben oder ihrer Freiheit für die
Beendigung des NS-Regimes eingetreten sind.

Das öffentliche Gedenken wird getragen von
Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) Kreisvorstand Kassel, Kasseler Friedensforum, Stolpersteine in Kassel e.V., Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten (VVN-BdA)

Wir gratulieren Jochen Boczkowski zum 90. Geburtstag

30. März 2023

Am 30. März 2023 feiert Jochen Boczkowski, Zeitzeuge und langjähriges Mitglied der VVN-BdA, seinen 90. Geburtstag.
Er hat nicht nur die Zerstörung seiner Heimatstadt erlebt, sondern wusste – aufgewachsen in einer sozialdemokratischen Arbeiterfamilie –, wer für diese Katastrophe die politische Verantwortung trug, das NS-Regime. In den vergangenen Jahren hat er dies immer wieder als Zeitzeuge in Jugendgruppen und öffentlichen Veranstaltungen erklärt. Seit mehr als 10 Jahren engagiert er sich für die antifaschistische Erinnerungsarbeit in der Kasseler Stolperstein-Initiative. Wenn man dann noch weiß, dass er gemeinsam mit seiner Frau Edeltraud seit drei Jahrzehnten als Wanderführer bei den Naturfreunden tätig ist, dann hat man die wichtigsten Felder, auf denen Jochen Boczkowski öffentlich zu finden ist. Und man trifft ihn in der Tat bei zahllosen politischen Aktionen – am 1. Mai, beim Antikriegstag oder dem Gedenkgang zur Reichspogromnacht.


Nicht vergessen werden soll seine politische Überzeugung, die ihn schon in den 1950er Jahren in die „Freie Deutsche Jugend“ und später in die KPD geführt hat. Er blieb dieser Überzeugung auch während des KPD-Verbotes treu und gehörte zu denjenigen, die in Kassel öffentlich die Neugründung einer kommunistischen Partei, der DKP ankündigten. Der Partei ist er bis heute verbunden.
Wir wünschen ihm Gesundheit, Kraft und Optimismus und, dass er uns noch viele Jahre als Mitstreiter zur Seite steht.

Jochen Boczkowski in seinem Element, Foto Klaus Brocke

Friedenskundgebung in Kassel

24. Februar 2023

Über hundert Menschen versammelten sich am Freitag, den 24. Februar am Friedrichsplatz, um die Forderung „Stoppt das Töten in der Ukraine“ mit aller Klarheit zu Gehör zu bringen. Bei dieser Kundgebung wurden in den verschiedenen Redebeiträgen sehr unterschiedliche Perspektiven formuliert – ihnen allen war jedoch gemeinsam, dass der Krieg in der Ukraine nur durch Dialog und Verhandlungen mit einem sofortigen Waffenstillstand im Interesse der Menschen beendet werden kann. Auf der Kundgebung hat der Vertreter der VVN-BdA Kreisvereinigung Kassel den nachfolgenden Redebeitrag gehalten:

Schon im November vergangenen Jahres haben in zahlreichen europäischen Städten – und auch hier in Kassel – Friedenskräfte auf den Straßen lautstark die Forderung erhoben
• sofortiger Waffenstillstand, stoppt das Töten in der Ukraine,
• keine weiteren Waffenexporte in das Kriegsgebiet,
• stattdessen Diplomatie zur Beendigung der Kampfhandlungen.
Das war unser Zeichen der Solidarität mit den Menschen in der Ukraine und allen von den Auswirkungen des Krieges betroffenen Völkern.
Ihr alle wisst es, unsere Forderungen wurden als „illusionär“ oder „weltfremd“ zurückgewiesen. Stattdessen wurde mit der Zusage der Bundesregierung für Waffenexporte in die Ukraine – insbesondere der Lieferung von Leopard 2–Panzern, die Verlängerung der Kämpfe angekündigt.
Diplomatische Initiativen zur Beendigung des Krieges?
Leider Fehlanzeige.

Begründet werden die Waffenlieferungen immer wieder mit dem Hinweis, nur so sei es der Ukraine möglich, sich gegen die russische Aggression zu verteidigen. Man tut so, als bedürfe es nur der Lieferung weiterer Panzer, um der Ukraine zum „Sieg“ zu verhelfen, was ja Präsident Selenskij in seiner Neujahrsbotschaft seinen ukrainischen Landsleuten versprochen hatte.

Wie aber sieht die Wirklichkeit aus?
Die US-Nachrichtenagentur Bloomberg listete Mitte Januar auf, dass die Verbündeten der Ukraine bereits jetzt mehr als 4.000 gepanzerte Fahrzeuge, Artilleriegeschütze, Flugzeuge und andere Waffensysteme zur Verfügung gestellt haben. Darunter seien 410 Panzer aus der Sowjetzeit zumeist T 72, die von NATO-Mitgliedern im ehemaligen sozialistischen Lager, darunter Polen, Tschechien und Slowenien, geliefert wurden. Außerdem wurden geliefert: 300 Schützenpanzer, 1.100 gepanzerte Mannschaftstransporter, 925 Minen widerstehende und Hinterhalt-geschützte Fahrzeuge, 1.540 Geländefahrzeuge, 300 bugsierte Haubitzen, über 400 Selbstfahrlafetten, 95 Mehrfachraketenwerfer, 18 Erdkampfflugzeuge vom Typ Su-25, 20 Hubschrauber vom Typ Mi17, weitere elf Hubschrauber sowjetischer Bauart, drei Hubschrauber vom Typ Westland Sea King, sechs Kamow-Hubschrauber, mehr als 30 Drohnen vom Typ Bayraktar TB2 und 415 Aufklärungsdrohnen.
Nein, ich habe diese lange Liste nicht vorgetragen, weil ich ein Waffennarr bin, sondern weil Bloomberg mit dieser Auflistung verbreitete, um die breite militärische Unterstützung der westlichen Staaten für die ukrainische Kriegsführung nachzuweisen.
Doch scheinen diese Lieferungen für die ukrainische Regierung vielmehr Ansporn zu weiteren Forderungen zu sein. Peinlich berührt mussten selbst wohlwollende Politiker am letzten Wochenende auf der Münchener Sicherheitskonferenz vom ukrainischen Regierungsvertreter dessen Forderung nach Lieferung von Splitterbomben und Streumunition hören – eine Waffenart, die wegen ihrer verhängnisvollen Wirkung auf die Zivilbevölkerung von den Vereinten Nationen seit vielen Jahren geächtet ist.

Aus meiner Sicht zeigt die Liste von Bloomberg aber etwas viel Wichtigeres: Sie ist ein Beweis für unsere Aussage, dass Waffen niemals Frieden bringen können, sondern nur Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien. Glauben die kriegsführenden Politiker allen Ernstes, 40 neue Panzer würden die Wende im Krieg bringen? Nein, man fordert bereits 400 – wohl wissend, dass die Lieferung einer solchen Zahl mehr als ein Jahr in Anspruch nehmen wird.
Will man das Töten zulasten aller Menschen in den Kriegsgebieten so viele Monate verlängern?

Inzwischen mehren sich weltweit die Stimmen der Vernunft, selbst ehemalige Militärs und Diplomaten, die einen sofortigen Waffenstillstand ohne Vorbedingungen und die Aufnahme von Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien fordern.
Ich erinnere in diesem Zusammenhang noch einmal an den Aufruf des Weltveteranenverbands (WVF) und der Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) vom November 2022:
„Waffen werden niemals Frieden bringen, Diplomatie und Verhandlungen sind der einzige Weg. Dies ist vor allem notwendig, um das Leben der Zivilbevölkerung auf beiden Seiten zu retten.
Darin sehen wir uns auch in Übereinstimmung mit Papst Franziskus, der eindringlich vor der Gefahr eines Atomkrieges gewarnt hat, der nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch für alle europäischen Länder und erst recht für die gesamte Menschheit katastrophale Folgen haben wird.“

Die Friedenskräfte appellieren international an Russland und die Ukraine, die Vermittlungs- und Dialogangebote der Vereinten Nationen und weiterer Staaten anzunehmen. Dies ist der einzige Weg, den Krieg zu beenden und Menschenleben zu retten. Wir begrüßen die Position der lateinamerikanischen Staats- und Regierungschefs auf dem CELAC-Gipfel in Argentinien, die den Grundsatz „Nein zum Krieg und Ja zum Dialog und zur Zusammenarbeit“ bekräftigt haben.
Dass solche Initiativen in vielen unserer Medien arrogant abgetan wurden, ist erschreckend. Selbst über den in München angekündigten chinesischen Friedensplan sprachen Medien – ohne dass auch nur ein Satz dieses Plans bekannt war – bereits von seinem Scheitern. Soll es etwa keine Friedensgespräche geben?
Seit heute Nacht liegt dieser Plan vor – und die Hauptkritik in unseren Medien lautet, er sei nicht ernst zu nehmen, da China keine neutrale Haltung in diesem Krieg eingenommen habe. Aber wer hat sich denn bei allen Beschlüssen in der UNO enthalten, statt der westlichen Forderung nach Verurteilung zu folgen? Wer nicht dem westlichen Narrativ folgt, ist nicht neutral – was für eine Logik?

Doch es gibt Hoffnung. Nicht nur hier in Kassel, heute und morgen gehen in Deutschland, in Europa und weltweit Menschen auf die Straße mit der Forderung „Waffenstillstand sofort, Nein zum Krieg, Ja zum Dialog“. Und sie sagen: „Lasst uns den Frieden gewinnen – nicht den Krieg!“
Das sind für mich hoffnungsvolle Signale, Signale auch für die Menschen in der Ukraine und allen Kriegsgebieten, Signale für die Kriegsverweigerer, dass ihnen keine Verfolgung mehr droht, Signale für die Geflohenen, wenn sie denn in ihre Heimat zurückkehren wollen.
Wenn die Stimmen der Völker lauter werden, müssen die Regierungen darauf reagieren.
In diesem Sinne: Lasst uns lautstark für Frieden eintreten!

Kassel erinnert an die Judendeportation 1941

10. Dezember 2022

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Am frühen Abend des 9. November 2022 erinnerten Stolpersteine in Kassel e.V. und VVN-BdA Kreisvereinigung Kassel mit einem Gedenkgang von der Arnold-Bode-Schule zum Kulturbahnhof auf dem „Weg der Deportierten“ an die erste Deportation von über 1000 jüdischen Menschen aus Nordhessen nach Riga. Am Sammelpunkt informierte Frank-Matthias Mann ausführlich über die historischen Hintergründe. Zum Abschluss formulierte Ulrich Schneider für die VVN-BdA, warum solche öffentlichen Gedenkaktionen notwendig sind.

Foto: Klaus Brocke

Wir erinnern und gedenken erneut in aller Öffentlichkeit an diesen Deportationstermin. Manch eine/ einer von euch war bereits am 7. November in diesem Jahr mit unserem traditionellen Gedenkgang zur Reichspogromnacht in Kassel, zu dem wir als Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten – kurz: VVN-BdA seit fast 25 Jahren einladen, hier vor Ort. Und wir werden auch in den kommenden Jahren immer wieder hierher kommen.
Nicht nur, weil wir zur Erinnerung den „Weg der Deportieren“ beschreiten wollen, sondern weil wir damit sichtbar und erlebbar machen wollen, dass sich diese menschenverachtende Politik vor den Augen der Kasseler Bürgerinnen und Bürger abgespielt hat. Und sie hat sich nicht nur „vor alle Augen“ abgespielt, sondern es wurde auch mit Neugierde, teilweise mit aktiver Beteiligung – und in vielen Fällen mit persönlicher Vorteilnahme umgesetzt.
Ich betone das deshalb, weil die Kriegs- und Nachkriegsgeneration gerne darauf hinwies, man habe von alle dem nichts gewusst. „Hitler war es!“
Das war nicht nur eine Lebenslüge, sondern auch eine Form der Verdrängung, mit der die eigene Verantwortung aus dem gesellschaftlichen Diskurs verdrängt werden sollte.
Vor wenigen Tagen wurde Fritz Bauer, der Frankfurter Generalstaatsanwalt, der in den 1960er Jahren den Auschwitz-Prozess auf den Weg gebracht hat, posthum mit der Wilhelm-Leuschner-Medaille des Landes Hessen geehrt. Dass dies erst Jahrzehnte nach seinem Tod erfolgte, verdeutlicht einmal mehr, welche enormen Vorbehalte die tatsächliche Aufarbeitung der faschistischen Verbrechen überwinden musste. Die meisten kennen Fritz Bauers Ausspruch über die Abgrenzung der damaligen Gesellschaft gegen seine Vorbereitung des Auschwitz-Prozesses. Heute ist es weniger eine Ausgrenzung, sondern eher Ignoranz und Nichtwahrnehmen.

Nun, wo die Generation der Täter und der Tatbeteiligten faktisch nicht mehr vorhanden ist, geht es nicht mehr darum, diesen einen Spiegel vorzuhalten, sondern vielmehr darum, dem Vergessen entgegenzuarbeiten. Natürlich kann man darauf verweisen, dass es eine große Zahl von verdienstvollen Veröffentlichungen zu den Themen gibt. Mehrere der heute hier Anwesenden haben mit ihren eigenen Forschungen und Veröffentlichungen dazu einen wichtigen Beitrag geleistet. Auch die neue Verantwortliche im Kasseler Stadtarchiv hat sich vorgenommen, die vorhandenen Unterlagen zu diesem historischen Kapitel handhabbar zu machen. Es geht also gar nicht in erster Linie um die weitere Erforschung der Verbrechen – obwohl es auch hier noch offene Fragen gibt –, es geht vielmehr um die Präsenz im gesellschaftlichen Bewusstsein der Zivilgesellschaft.
Dazu reichen keine offiziellen Gedenkveranstaltungen im Rathaus Bürgersaal, auch wenn sie ein Zeichen dafür sind, dass das Thema von der Stadtverwaltung wahrgenommen wird. Vielmehr muss es um eine lebendige Erinnerung in der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit gehen, so wie sie die Stolpersteine, die blaue Linie auf dem „Weg der Deportierten“ oder die Gedenktafeln an sichtbarer Stelle es ermöglichen.

Dabei geht es gerade um die Erinnerung an die Menschen selber, die als Verfolgte, als Opfer den faschistischen Verbrechen ausgeliefert wurden. Die NS-Täter trachteten danach, sie zu anonymisieren. Die Menschen wurden in Massentransporten, die nur noch nach Hunderten zählten, verschleppt, in den Lagern und Haftstätten wurde ihnen – wenn sie denn überhaupt registriert wurden, der Name und die Identität geraubt und durch Nummern und Winkel ersetzt. Es ist die Herausforderung der heutigen und zukünftigen Generationen, ihnen für heute ihre Identität – und damit auch ein Stück ihre Menschenwürde – wieder zurückzugeben, indem wir an die Verbrechen erinnern und auch die Opfer benennen.

Ein weiterer Gedanke ist mir wichtig. Schon am 1. April 1933 zeigten die Nazis mit der öffentlichen Ausgrenzung und Stigmatisierung jüdischer Geschäfte, Arztpraxen und Rechtsanwaltkanzleien, dass der Umgang mit jüdischen Menschen zukünftig nicht mehr akzeptiert ist. Obwohl das NS-Regime noch lange nicht fest im Sattel saß, gab es keinen „Aufschrei des Entsetzens“ der Mehrheitsgesellschaft. Vielmehr waren die „ordentlichen Bürger“ bis zur Deportation bereit, alle ausgrenzenden Verordnungen und Gesetze „pflichtgetreu“ umzusetzen. Direkt und mittelbar Beteiligten an der Ausgrenzung, Ausplünderung und Verfolgung konnten sich damit beruhigen, man befolge ja „nur“ Gesetze. Wir haben vorhin gehört, wohin das führte.
Mit Blick auf diese verbrecherischen Konsequenzen stellt sich – gerade auch für heutige Generationen – die Frage, ob wir aufmerksam und politisch sensibel genug sind, solche Ausgrenzungen, Rassismus und Antisemitismus in seinen vielfältigen und subtilen Formen nicht nur wahrzunehmen, sondern auch mit aller Entschiedenheit und Klarheit zurückzuweisen. Nur dann hat Erinnerung einen Wert, wenn es nicht nur um die Trauer um die Opfer geht, sondern auch um gesellschaftliche Konsequenzen für unser Gemeinwesen.

Und wir sollten dran erinnern – und das ist ein zentrales Anliegen unserer Organisation, der VVN-BdA –, dass es auch in Kassel Menschen gab, die sich diesem Regime aus politischer oder humanistischer Überzeugung widersetzt haben, trotz aller Gefahren für ihre Gesundheit, ihre Freiheit oder gar ihr Leben. Sie waren eine Minderheit.
Für einige von ihnen haben wir in Kassel bereits Erinnerungszeichen, Stolpersteine, Gedenktafeln oder Straßennamen. Exemplarisch nenne ich nur Traugott Eschke, Kurt Finkenstein, Paula Lohagen, Max Mayr oder Konrad Merle. An diesen Widerstand zu erinnern, ist mir auch im Gedenken an die Opfer der Massenverbrechen immer wieder wichtig. Sie repräsentieren das – wie man es früher sagte – „andere Kassel“. Das ist eine positive Tradition, an die wir in unserem historischen Gedenken anknüpfen können.

In diesem Sinne ist unser Gedenken nicht retrospektiv oder allein historisch orientiert, sondern auf heutige Generationen bezogen. Sie sollen die Möglichkeit bekommen, sich nicht nur mit den verbrecherischen Ereignissen in ihrem eigenen Umfeld und den Strukturen, die das ermöglicht haben, zu beschäftigen, sondern auch die Menschen dahinter erkennen, die als Verfolgte davon betroffen waren, aber auch diejenigen, die bereit waren sich dem zu widersetzen. Das ist eine Botschaft für heute und morgen.

Ansprache in Kassel zum Friedensaktionstag 19.11.2022

19. November 2022

Vor genau neun Monaten am 19. Februar dieses Jahres haben sich sicherlich nur wenige vorstellen können, dass wir heute hier zusammenstehen müssen, um der Forderung Nachdruck zu verleihen, „Stoppt den Krieg in der Ukraine“.
Warum erinnere ich an dieses Datum? In der Tat gab es schon damals deutliche Anzeichen für eine sich anbahnende militärische Eskalation. Und schon damals gab es vernünftige Stimmen, die sich für Verhandlungen, für die Einhaltung von Verträgen und für eine militärische Deeskalation einsetzten. Am 20. Februar 2022 verbreitete die Internationale Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) folgende Vorschläge, die sich mit den Ideen der internationalen Friedenskräfte deckten. Sie trat ein für:
• „Eine propagandistische Deeskalation und Vorbereitung einer europäischen Sicherheitskonferenz im OSZE-Format, in der vertragliche Vereinbarungen abgeschlossen werden, die den Sicherheitsinteressen aller Staaten in Europa entsprechen.
• Wer keine russischen Mittelstreckenraketen in Kaliningrad will, muss auch vertraglich zusagen, keine an anderer Stelle nahe der russischen Grenze zu positionieren.
• Wer will, dass russische Truppen nahe der eigenen Grenzen abgezogen werden, der darf keine NATO–Truppen an seiner eigenen Grenze vorsehen.
• Wer keine politisch-militärische Eskalation in Europa will, der muss verhindern, dass die NATO sich – entgegen aller politischen Absprachen – weiter nach Osten ausdehnt.
• Wer eine Deeskalation der Lage will, muss zurückkehren zu vertrauensbildenden Maßnahmen (wie z.B. dem open sky-Abkommen), den Prinzipien der NATO-Russland-Grundakte von 1997 und zu echten Rüstungsbegrenzungs- und Abrüstungsverträgen, die durch die USA einseitig gekündigt worden sind.
• Nicht gefährliche Drohgebärden und Aufrüstung der Ukraine, sondern Diplomatie, eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur und der erkennbare Wille zur Abrüstung sind in dieser Situation nötig.
Die FIR und ihre Mitgliedsverbände haben schon vor mehreren Jahren die Forderung nach einer neuen Entspannungspolitik erhoben. Dies ist aktueller denn je. Dafür müssen sich die Friedenskräfte in allen europäischen Ländern öffentlich einsetzen.“
Das wurde vier Tage vor dem Krieg veröffentlicht.
Doch diese Stimmen fanden bei Politikern – und dabei nenne ich auch ganz ausdrücklich die Ampelkoalition und unsere Außenministerin – überhaupt kein Gehör. Vielmehr glaubte man mit markigen Worten und klaren „Signalen der Stärke“ die eigene außenpolitische Agenda durchsetzen zu können – auf Kosten von wem auch immer.
Fünf Tage später wurde in aller Brutalität sichtbar, wie aus politischen Drohgebärden ein konkreter Krieg entstand, weil im Vorfeld keinerlei Anstrengungen unternommen wurden, eine Deeskalation zu erreichen.

Und Dienstagnacht hätte es beinahe eine weitere Eskalationsstufe gegeben, als eine fehlgesteuerte ukrainische Luftabwehrrakete in einem polnischen Dorf einschlug und dort zwei Menschen tötete. Sofort waren kriegsbegeisterte Medien dabei, von einem russischen Angriff auf einen NATO-Staat zu berichten und den „Bündnisfall“ herbeizureden. Wir können froh sein, dass in dieser Situation rationales Handeln noch die Entscheidungen von Politikern bestimmte, man also seinen eigenen Geheimdienstinformationen mehr vertraute als dem Getöse in interessierten Medien.
Denn anderenfalls hätten wir heute in der Konsequenz einen großen Krieg zwischen der NATO und Russland, der im Moment noch als „Stellvertreterkrieg“ auf ukrainischem Boden ausgetragen wird.

Dabei ist der Begriff „Stellvertreterkrieg“ eigentlich in jeder Hinsicht unzureichend. Richtiger wäre die Beschreibung, dass dieser Krieg auf dem Rücken der ukrainischen – aber auch der russischen – Bevölkerung ausgetragen wird. Und das wissen wir aus allen militärischen Auseinandersetzungen der vergangenen Jahrzehnte, dass Kriege zu aller erst zu Lasten der Menschen in den Kriegsregionen und darüber hinaus gehen. Auch deshalb lautet unsere Losung heute: „Stoppt das Töten in der Ukraine – Aufrüstung ist keine Lösung!“

Je länger der Krieg in der Ukraine dauert, desto lauter werden zum Glück die Stimmen in der Zivilgesellschaft, die einen aktiven Beitrag der Diplomatie für eine sofortige Einstellung der Kämpfe und für den Beginn ernsthafter Verhandlungen zwischen den Kriegsparteien fordern.
Niemand kann mehr übersehen, dass jeder weitere Tag des Krieges, jegliche weitere Waffenlieferung keinen Schritt zum Frieden bringt, sondern nur das Leid insbesondere der Zivilbevölkerung auf beiden Seiten vergrößert. Zudem erleben wir am Beispiel des Streites um die Getreidelieferungen über das Schwarze Meer, dass insbesondere die ärmsten Staaten der Welt ebenfalls zu den Leidtragenden des Krieges gehören.

Anfang November haben deshalb die weltweit größten internationalen Verbände ehemaliger Kriegsteilnehmer und Verfolgter des Nazismus in allen Ländern, der Weltveteranenverband (WVF) und die Internationale Föderation der Widerstandskämpfer (FIR) sich in einem gemeinsamen Friedensappell für die sofortige Beendigung des Krieges in der Ukraine eingesetzt. In dem von ihren Präsidenten unterzeichneten Appell heißt es:
„WVF und FIR, beide als „Botschafter des Friedens“ der Vereinten Nationen ausgezeichnet, erheben in der Tradition der Veteranen des Zweiten Weltkriegs und der Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus, verbunden mit relevanten Kräften der Zivilgesellschaft in vielen Ländern Europas, in der aktuellen Situation ihre Stimme, für die Beendigung des Krieges in der Ukraine.
Wir rufen beide Seiten und alle verbündeten Kräfte zu einem sofortigen Waffenstillstand und zur Aufnahme von internationalen Verhandlungen auf. Waffen werden niemals Frieden bringen, Diplomatie und Verhandlungen sind der einzige Weg. Dies ist vor allem notwendig, um das Leben der Zivilbevölkerung auf beiden Seiten zu retten.
Darin sehen wir uns auch mit Papst Franziskus einig, der eindringlich vor der Gefahr eines Atomkriegs gewarnt hat, der nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern auch für alle europäischen Länder und definitiv für die gesamte Menschheit katastrophale Folgen haben wird.“

Diese Botschaft wurde Anfang November auf einer Großkundgebung von etwa 100.000 Menschen in Rom für „Frieden in Europa“ vorgetragen. Ein gesellschaftliches Bündnis aus antifaschistischen Verbänden, der größten italienischen Gewerkschaften, Friedensinitiativen und sozialen Netzwerken sowie christlichen Organisationen hatte zu dieser Großaktion aufgerufen.

Der Präsident des italienischen Partisanenverbandes ANPI hielt eine sehr emotionale Rede, die ich hier gerne zitieren möchte: „Warum sind wir hier? Wir sind hier, um zu schreien. Und unser Schrei wird lauter sein als das Getöse der Bomben. Er wird lauter sein, wenn wir uns immer mehr vereinen, wenn mehr Plätze wie dieser in Europa entstehen. Unser Schrei kann sich durchsetzen, wenn er zum Schrei eines Volkes, zum Schrei der Völker wird. Unser Schrei bricht das Schweigen der Diplomatie, verurteilt das Fehlen von Verhandlungen, lehnt den Krieg ab und erkennt alle als Brüder an. (…)
Es gibt einen anderen Weg, den Waffenstillstand, die Verhandlung, die internationale Konferenz, das Verbot von Atomwaffen. Es ist der Weg der Völker, des Lebens, des Traums von einer anderen, weniger unglücklichen Welt. Das ist der Weg der heutigen Partisanen. Partisanen des Friedens, Partisanen der Menschlichkeit.“

Leider sind wir in Deutschland von einer solch breiten Mobilisierung der Friedenskräfte noch weit entfernt. Dabei haben viele Menschen in unserem Land große Sorgen über die Fortsetzung der militärischen Eskalation. Es melden sich auch vermehrt wirkliche Fachleute, ehemaligen Militärs, Politiker, Diplomaten oder Journalisten mit Analysen und öffentlichen Stellungnahmen zu Wort, in denen sie die Rückkehr zu Diplomatie und Verhandlungen einfordern. Sie stellen sich damit gegen die politischen „Schwüre unverbrüchlicher Treue“ und massive Militarisierung der Kriegsregion, wie sie gerade erst wieder bei der Tagung der Außenminister der G7-Staaten propagiert wurde.
Auch wenn wir nur wenige sind, stehen wir heute in Kassel und wollen mit unserer kleinen Aktion, wie sie an diesem Tag in verschiedenen Städten in Deutschland stattfinden, die Stimme der Vernunft, der Verhandlung und des Friedens hörbar werden lassen.
• Wir brauchen einen sofortigen Waffenstillstand.
• Russland und die Ukraine müssen die Vermittlungsangebote der Vereinten Nationen und anderer Staaten annehmen.
• Unsere Regierung und die Europäische Union müssen einen eigenen Beitrag zu dieser Deeskalation leisten.
• Nur so können der Krieg gestoppt und Menschenleben gerettet werden.

Öffentliches Gedenken der Novemberpogrome in Kassel

7. November 2022

Wie in allen Jahren zuvor hatten auch diesmal die VVN-BdA und das Kasseler Friedensforum am 7. November eingeladen zum traditionellen Mahngang auf den Spuren der Verfolgung und der Ausgrenzung. Etwa 50 Antifaschisten, unterschiedlichen Alters und aus verschiedenen politischen Zusammenhängen, nahmen daran teil. In seiner Begrüßungsansprache am Platz der ehemaligen Synagoge unterstrich Dr. Ulrich Schneider für die VVN-BdA:

Ob 84. Jahrestag oder ein anderes Datum, wir erinnern seit mehr als zwei Jahrzehnten daran, dass die Pogromnacht 1938, und damit die Vorbereitung der Deportation auch der Kasseler Jüdinnen und Juden in die Ghettos und Vernichtungslager vor über 80 Jahren, in dieser Stadt „vor aller Augen“ stattfand. Niemand konnte behaupten, er habe davon nichts gewusst, wie uns vor einigen Jahren ein Zeitzeuge in der Rosenstraße anschaulich berichtete.

Mit diesem alljährlichen Gedenkgang halten wir die Erinnerung an Verfolgung und faschistischen Terror lebendig und setzen gleichzeitig ein Signal gegen Neofaschismus und Antisemitismus heute.
In diesem Jahr haben wir unser Botschaft ein wenig gegenüber den vergangenen Jahren verändert. Wir sagen nicht nur:
In Kassel ist kein Platz für Neofaschismus, Rassismus und Antisemitismus.
Sondern betonen auch in aller Deutlichkeit:
Kassel ist keine Stadt des Antisemitismus.

Wir wissen und haben in der öffentlichen Debatte um die documenta15 erleben müssen, Antisemitismus und Rassismus sind keine „historischen“ Themen. Es bedarf aber gerade der historischen Erinnerung, um pauschale Anwürfe und tagespolitische Instrumentalisierungen zu verhindern. Die VVN, aber auch die „Omas gegen rechts“ und andere haben mit ihren Veranstaltungen im ruru-Haus dazu ihren Beitrag geleistet.
Gerade am heutigen Tag wird das sichtbar. Vorhin fand das Gedenken der jüdischen Gemeinde mit der Stadt auf dem jüdischen Friedhof in Bettenhausen statt, jetzt gestalten wir unseren alljährlichen Mahngang und um 18:00 im Rathaus, Bürgersaal findet eine Veranstaltung – gemeinsam mit der Stolperstein-Initiative statt, auf der junge Menschen ihre Projekte zur Erinnerung vorstellen.
Wir werden heute unseren Rundgang zur lokalen Erinnerung mit dem sichtbaren Zeichen des Gedenkens an die Deportation von der heutigen Arnold-Bode-Schule zum Kulturbahnhof verbinden.
An diesen Beispielen zeigt die Zivilgesellschaft, dass das geschichtspolitische Erinnern der antisemitischen Verbrechen tatsächlich gelebt wird.

Es gibt aber keinen Grund, sich beruhigt zurückzulehnen. Ich erinnere daran, nicht nur, weil vor wenigen Tagen Dummköpfe glaubten, an die Mauer der Synagoge Graffitis anbringen zu müssen, dass wir in diesem Jahr mehrfach Hakenkreuz-Schmierereien in der Stadt erleben mussten. Im April schrieben wir dazu einen offenen Brief an die Stadt und die Stadtgesellschaft – eine offizielle Reaktion dazu erreichte uns bis heute nicht. Wegducken oder Ignorieren sind aber keine Antwort. Deshalb ist unser öffentliches politisches Handeln immer wieder gefordert.

Von der Pogromnacht in Kassel 1938 zur Deportation in die Ghettos und Vernichtungslager

28. Oktober 2022

Im Gedenken der Opfer der Novemberpogrome:
Keine Toleranz gegen Neofaschismus und Antisemitismus!

Mit diesem alljährlichen Gedenkgang halten wir die Erinnerung an Verfolgung und faschistischen Terror lebendig und setzen gleichzeitig ein Signal gegen Neofaschismus und Antisemitismus heute.
Wir erinnern daran, dass die Pogromnacht 1938 – „vor aller Augen“ – die Vorbereitung der Deportation auch der Kasseler Jüdinnen und Juden in die Ghettos und Vernichtungslager vor über 80 Jahren war. Dabei wird der Rundgang die lokale Erinnerung mit dem sichtbaren Zeichen des Gedenkens an die Deportation von der heutigen Arnold-Bode-Schule zum Kulturbahnhof verbinden.
Wir wissen und haben in der öffentlichen Debatte um die documenta15 erleben müssen, Antisemitismus und Rassismus sind keine „historischen“ Themen. Es bedarf aber gerade der historischen Erinnerung, um pauschale Anwürfe und tagespolitische Instrumentalisierungen zu verhindern. Daher wollen wir mit und
gegenüber der Stadtgesellschaft sichtbar machen:

Kassel ist keine Stadt des Antisemitismus.
In Kassel ist kein Platz für Neofaschismus, Rassismus und Antisemitismus.

Gedenkkundgebung und Mahngang
am Montag, den 7.November 2022, um 16.30 Uhr
Treffpunkt: Gedenktafel ehem. Synagoge, Untere Königstraße,
anschließend
Mahngang auf den Spuren der Erinnerung an Ausgrenzung, Verfolgung und Vernichtung
(Die Beachtung der Corona-Regelungen wird von allen Teilnehmenden erwartet)
Der Mahngang endet um 17:45 h am Rathaus, so dass alle Interessierten an der Gedenkveranstaltung mit Schülerprojekte zur Erinnerung um 18:00 h teilnehmen können.

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