Kassel – Die Befreiung vom Faschismus

3. April 2020

Am 5.April 1945 begann für die Menschen in der Stadt Kassel ein neuer Abschnitt. Der Krieg war vorbei, die Probleme des Überlebens blieben jedoch. Am Morgen nach der Übergabe der Stadt an die amerikanischen Truppen hatten die Menschen eine Sicherheit: Von nun an würde es keinen Fliegeralarm mehr geben, kein stundenlanges Warten in Kellern und Bunkern. Hatte es vorher fast täglich mehrere Stunden Alarme gegeben, konnte man nun sicher sein: die Stadt, die noch stehenden Häuser und das eigene Leben waren durch den Krieg nicht mehr gefährdet. Niemand würde mehr von einem „Endsieg-fanatischen“ Nazi an die Front geschickt werden. Aber dennoch war das Leben für die über 70.000 Menschen in der Stadt, unter ihnen fast 30.000 Zwangsarbeiter, alles andere als normal.

Wie überall entstanden alliierte Kommandanturen. Der amerikanische Stadtkommandant Major Lamson richtete seine Diensträume im 1.Stock des Rathauses, im Flügel Wilhelmsstraße, der nicht so schwer beschädigt war, ein. Und er verfügte „Im Auftrage der Militärregierung“ in einer „Bekanntmachung An die Zivilbevölkerung!“ die Regeln für das weitere öffentliche Leben.

Für Zivilpersonen wurde eine Ausgangssperre bis 6.00 Uhr angeordnet. Die Totalverdunkelung musste beibehalten werden, da die Alliierten vereinzelte Gegenangriffe fürchteten.
Außerdem wurde eine Bewegungssperre verhängt. Ohne besondere Erlaubnis durfte sich niemand mehr als 6 km von seinem Wohnort entfernen, die Benutzung von Motorrädern und privaten Pkws, sowie der Eisenbahnen, wenn sie denn fuhren, bedurfte der Erlaubnis. Radioapparate und Schusswaffen mussten abgeliefert werden. Und da das Fotografieren sowie so verboten war, requirierten die amerikanischen Soldaten alle Kameras, die ihnen bei Haussuchungen und anderen Gelegenheiten in die Hände fielen.
Zeitungen und der gesamte Nachrichtenverkehr wurden erst einmal verboten. Versammlungen von mehr als 5 Personen öffentlich und in Privatwohnungen waren ebenfalls verboten.

All dies diente nicht der Wiederherstellung des öffentlichen Lebens, sondern dem Schutz der Alliierten, waren sie doch in ein feindliches Land gekommen.

Ein Problem für die Amerikaner war, wie diese Anordnung möglichst schnell der gesamten Bevölkerung bekannt gemacht werden konnte. Neben Plakatanschlägen in deutscher und englischer Sprache bedienten sie sich Deutscher, die der englischen Sprache mächtig waren, die sie als „Dolmetscher und Verbindungsmann zwischen der amerikanischen Regierung und der Bevölkerung“ einsetzten. Willi Seidel, der erste Bürgermeister nach 1945, berichtet: „Am Tage der Besetzung Kassels wurde ich von einem Herrn aus der Nachbarschaft (Oberingenieur Hähnel) davon unterrichtet, dass die Ausgehzeit der Deutschen auf 20 Uhr beschränkt sei und alle Waffen abgeliefert werden müssten. Herr Hähnel teilte mir dies im Auftrag eines Herrn d’Oleire mit, der von der Militärregierung als eine Art Vizebürgermeister für den Bezirk Wilhelmshöhe eingesetzt worden sein sollte.“ (Bestand Seidel, Bd.1, Stadtarchiv)

Für die meisten Kasseler Bürger war die Frage der Verwaltung und der Anordnungen der Amerikaner jedoch kein Problem, auch wenn der eine oder andere sich über den Verlust eines Fotoapparates bitterlich beschwerte. Existenzieller war sicherlich, dass der Zusammenbruch der Strom-, Gas- und Wasserversorgung, der schon in den letzten Kriegstagen das Leben der Menschen bestimmt hatte, auch nach der Befreiung zu großen Problemen in der Versorgung führte. Nur die Lebensmittelversorgung bereitete in den ersten Tagen nach der Befreiung wenige Probleme. Waren doch unmittelbar vor dem Ende die Lebensmittellager der Wehrmacht und im Weinbergbunker freigegeben worden. So hatten viele Familien Vorräte anlegen können, die erst Wochen später zur Neige gingen.

Die größte Sorge, die sich in den Berichten der ersten Tage immer wieder zeigt, war die Angst vor den Zwangsarbeitern. Wussten die Kasseler Bürger doch, wie mit ihnen umgegangen worden war, und befürchtete nun, dass diese „den Spieß umdrehen“ könnten. Selbst Willi Seidel sprach von „dem Unwesen der ausländischen Arbeiter“ und davon, dass Chaos, „Plünderungen und Vergewaltigungen … an der Tagesordnung waren“. Für eine solche Behauptung gibt es in Kassel jedoch keine ernsthaften Belege. Eine solche Aussage dokumentiert eher die damalige Verunsicherung und es zeigt, wie wenig Bewusstsein von der eigenen Verantwortung für das Geschehene vorhanden war.