Das Ende einer Sprengstoff-Fabrik in Hessisch-Lichtenau
23. März 2020
Am 29.März 1945 hörte eine der größten Munitionsfabriken in Deutschland, die Sprengstoffwerke „Friedewald“ bei Hirschhagen, auf zu produzieren. In der Nähe von Kassel, in Hirschhagen bei Hessisch-Lichtenau, befand sich seit 1936/37 – gut getarnt, aber in der Region bekannt – eine der größten Sprengstoff-Produktionsstätten des deutschen Reiches. Auf 233 ha wurden fast 400 Werksgebäude, 2 Kraftwerke, 17km Gleisanlagen und ein weitverzweigtes Straßennetz errichtet.
In der Region selber gab es für ein solches Werk nicht genügend Arbeitskräfte. Daher wurden um Hirschhagen herum 10 Lager bzw. Siedlungen zur Unterbringung neuer Arbeitskräfte geschaffen. Neben den Deutschen, unter ihnen sehr viele dienstverpflichtete Frauen, waren in Hirschhagen Menschen aus 11 europäischen Ländern eingesetzt. Zwangsarbeiter aus Frankreich, Belgien, Holland, Polen, Bulgarien, der Tschechoslowakei und der Sowjetunion wurden rekrutiert. Als letztes Arbeitsaufgebot wurden am 2.August 1944 1000 ungarische Jüdinnen, die im KZ Auschwitz als arbeitsfähig selektiert waren, nach Hirschhagen gebracht und dort als Frauen-Außenkommando des KZ Buchenwald geführt.
So erreichte die Zahl der Arbeitskräfte in Hirschhagen zeitweilig fast 7500 Personen. Sie arbeiteten im Baubereich (Ausbau und Wiederherstellung der Produktionsanlagen) und in der unmittelbaren Sprengstoffproduktion bzw. -abfüllung. Hergestellt und verfüllt wurden TNT als Sprengstoff in Bomben, Granaten und Tellerminen, Pikrinsäure als Treibmittel für Geschosse und Nitropenta.
Diese Produktion war sehr gesundheitsschädlich. Während den Deutschen Schutzkleidung zur Verfügung gestellt wurde, waren Ostarbeiter und die KZ-Häftlinge meist schutzlos den Giftstoffen ausgeliefert. Blanka Pudler, eine ungarischen Jüdinnen berichtet: Ich „musste den in die Granaten zu füllenden Sprengstoff mit Messingstäbchen sorgfältig rühren, damit eine gleichmäßige Abkühlung erfolgt … Ich habe den bitterlich schmeckenden, ungesunden Dampf einatmen müssen, das hat mich betäubt, und ich bin oft dann zur Besinnung gekommen, als mir der heiße Sprengstoff ins Gesicht spritzte, dadurch wurde mein Gesicht mit Brennwunden voll.“
Auch die Haare nahmen die Chemikalien auf. Eine ältere Helsaerin erinnerte sich auf einer Veranstaltung an die Frauen, die man wegen ihrer gelben Haare „Kanarienvögel“ genannt habe. Morgens und abends, wenn sie nach der 10-12 Stunden Arbeitsschicht in ihre Unterkunft „Vereinshaus“ marschierten, seien sie durch ihr Dorf gekommen.
Doch es gab auch kleine „Lichtblicke“. Blanka Pudler erinnert sich an eine „sehr sympathische deutsche Dienstverpflichtete“: „Sie fühlte für mich großes Mitleid, tröstete mich und half mir, wo sie konnte. Manchmal gab sie mir sogar etwas zum Essen, obwohl ich weiß, dass sie auch nicht viel zum `Beißen‘ hatte.“
Die Produktion selber war ebenfalls sehr gefährlich. Allein durch Unfälle und Explosionen in der Fabrik haben mindestens 185 Menschen ihr Leben verloren. Bei der schwersten Explosion am 31.3.44 wurden 16 Deutsche und 55 ausländische Arbeiter getötet.
Bis zum letzten Augenblick, bis zum Heranrücken der amerikanischen Truppen Anfang April 1945, wurde die Produktion als „kriegsentscheidend“ aufrechterhalten. Eine Abrechnung der „Verwertchemie Hessisch-Lichtenau“ (IG Farben-Tochter) mit der SS belegt, dass die ungarischen Jüdinnen noch vom 1. bis 22.März 1945 152.768 Arbeitsstunden leisteten, für die die SS 55.552 RM kassierte. Die Frauen bekamen selbstverständlich nichts.
Am 29.März wurde das KZ-Außenkommandos aufgelöst und nach Leipzig transportiert und von dort auf „Todesmarsch“ geschickt. Die Frauen, die diesen Marsch überstanden, erlebten erst am 25.April die Befreiung.