Ansprache Ostermarsch 2015

6. April 2015

Anlässlich des Kasseler Ostermarsch, an dem knapp 700 Menschen teilnahmen, erinnerte Ulrich Schneider an den 70. Jahrestag der Befreiung. Nachfolgend seine Ansprache:

Wir erinnern in diesem Jahr an den 70. Jahrestag der Befreiung von Faschismus und Krieg. Es waren die Ostertage 1945, als die amerikanischen und britischen Einheiten das Kasseler Becken erreichten und nach wenigen Tagen den letzten Widerstand von Wehrmacht, Volkssturm und SS-Verbänden zerschlugen. Am 4. April 1945 kapitulierten die letzten Wehrmachtseinheiten, nachdem sie noch mehrere Tage – also bis 5 Minuten nach 12 – unsinnigen Widerstand geleistet hatten und damit den Tod weiterer Menschen zu verantworten hatten.
Sie hatten mit diesem militärischen Widerstand auch zu verantworten, dass in den letzten Stunden vor der Befreiung der Stadt die Gestapo und SS noch drei Verbrechen begehen konnten, als sie am Karfreitag 1945 zwölf Häftlinge des Zuchthaus Wehlheiden, darunter Wolfgang Schönfeld, der 1944 als Deserteur verhaftet worden war, ohne irgendein Urteil auf dem Wehlheider Friedhof ermordeten; als am Ostersamstag 78 italienische Zwangsarbeitern und ein sowjetischer Häftling angeblich wegen Plünderung – sie hatten sich aus einem aufgebrochenen Wehrmachtstransport auf dem Bahnhof Wilhelmshöhe Lebensmittel genommen – ebenfalls standrechtlich erschossen wurden. Verantwortlich in beiden Fällen war der Leiter der Kasseler Gestapo Franz Marmon. Auf seinen Befehl hin wurden ebenfalls am Ostersamstag 28 Häftlinge des Arbeitserziehungslagers Breitenau, darunter 16 sowjetische, 10 französische und 2 niederländische Gefangene von SS-Leuten in den Fuldabergen bei Guxhagen ermordet.

Ich halte es für nötig, an diese Verbrechen zu erinnern, um die Perspektive, die mancher mit dem Kriegsende verbindet, die „Deutschen seien doch auch Opfer gewesen“, in Frage zu stellen. Tatsächlich fühlten sich viele Deutschen, die bis zuletzt mitgemacht hatten, nun als Opfer:
Sie lebten in einer Stadt, deren Innenstadt zu 85 Prozent zerstört war. Es fehlte an grundlegender Versorgung und Infrastruktur und nun mussten auch jene angemessen untergebracht und versorgt werden, die vorher als „Fremdarbeiter“ zum Funktionieren der faschistischen Kriegsproduktion und zur Beseitigung der Trümmer in der Stadt eingesetzt worden waren. Immerhin waren das im Laufe der Zeit über 30.000 Zwangsarbeiter gewesen.
Und zurecht hatten manche Nazis, die sich mit der „Herrenmenschen-Ideologie“ im Kopf bis zuletzt als Schinder erwiesen hatten, berechtigte Angst, dass sich die Drangsalierten für diese Torturen mit gleicher Münze rächen könnten.

Aber selbst für diese Mitläufer und Mittäter des NS-Regimes war der 4. April in Kassel und der 8. Mai 1945 ein Tag der Befreiung. Eröffnete er ihnen doch die Möglichkeit aus dem faschistischen System und den Fesseln der „Volksgemeinschaftsideologie“ auszubrechen und nun einen neuen Weg zum Aufbau einer demokratischen und friedlichen Gesellschaft mitzugehen. Einige von ihnen haben diese Möglichkeit ergriffen.

Und in diesem Sinne ist und bleibt für uns der 8. Mai der Tag der Befreiung und wir werden ihn in aller Öffentlichkeit hier in Kassel mit einem Fest auf dem Friedrichsplatz feiern, wozu wir alle Friedensfreunde, alle gesellschaftlichen Organisationen und Initiativen herzlich einladen.
Feiert mit uns am 8. Mai 2015 den Tag der Befreiung, mit kurzen Ansprachen, mit Musik, kulturellen Beiträgen und guten Gesprächen.

Wenn wir an diesen Tag erinnern, dann erinnern wir immer auch an diejenigen, die – gegen den gesellschaftlichen Mainstream, gegen die faschistische Alltagsideologie – bereit waren, unter Einsatz ihres Lebens, ihrer Freiheit und ihrer Gesundheit sich dem faschistischen Terror entgegenzustellen. Seit vielen Jahren erinnert Rolf Wekeck bei dem Zwischenstopp am Mahnmal im Fürstengarten an einzelne Persönlichkeiten des Kasseler antifaschistischen Widerstands.
Auch durch die Stolperstein-Initiative wurde bei den vergangenen Verlege-Aktionen immer auch an Menschen erinnert, die als politische Gegner des Naziregimes verfolgt und getötet wurden. Ich nennen nur die Namen Traugott Eschke, Paula Lohagen, Kurt Finkenstein oder Konrad Belz, ohne damit andere ausschließen zu wollen. Sie alle traten ein für ein anderes Deutschland, eine bessere Zukunft, eine solidarische Gesellschaft und eine friedliche Welt.

Und einiges davon wurde nach der Befreiung in Kassel versucht umzusetzen. Die politische Losung „Nie wieder Krieg!“ haben beispielsweise die Arbeiter in Kassel konkret übersetzt mit „Nie wieder ‚Tiger-Stadt‘!“. Und als im Deutschen Bundestag über die Remilitarisierung diskutiert wurde, kam es in Kassel zum ersten politischen Streik, als die Arbeiter von Henschel und anderen Unternehmen spontan auf die Straße gingen und gegen die Wiederaufrüstung protestierten.
Wir alle wissen, dass dieser politische Widerstand nicht von Erfolg gekrönt war.
Um so dringender ist es für mich, in Erinnerung an den 70. Jahrestag der Befreiung der Stadt und der damaligen Verpflichtung „Nie wieder Krieg!“ heute für ein Ende der Kriegsproduktion in unserer Stadt und für Rüstungskonversion einzutreten. Natürlich wusste man damals und wissen wir heute, dass mit Rüstung enorme Profite gemacht werden. Aber damals war es auch im allgemeinen Bewusstsein, dass solche Profite Blutgeld sind – bezahlt mit dem millionenfachen Tod der Zivilbevölkerung, mit den Opfern auch in dieser Stadt.
Diese Erkenntnis sollten wir 70 Jahre nach Kriegsende auch an diesem Ostermarsch erneut in Erinnerung rufen, damit unser historisches Gedenken nicht nur retrospektiv ist, sondern eine Perspektive für friedenspolitisches Handeln heute und morgen beinhaltet.

Und wir sollten auch die zweite Losung des 8. Mai 1945 nicht vergessen: „Nie wieder Faschismus!“ Natürlich wissen wir, dass ein faschistisches Regime nicht vor der Tür steht, aber wenn wir heute an den 70. Jahrestag der Befreiung erinnern, müssen wir auch daran erinnern, dass heute vor 9 Jahren der neofaschistische Mordterror des Netzwerkes des NSU in Kassel zugeschlagen hat. Halit Yozgat, an den wir beim Auftakt in der Nordstadt erinnert haben, wurde am 6. April 2006 in Kassel ermordet.
Wer heute noch Zeit hat, ist eingeladen, um 16:00 h am Halit-Platz an der Gedenkveranstaltung teilzunehmen.