Reichspogromnacht – Gedenken in Kassel 2014

13. November 2014

Nachfolgend die Ansprache von Andreas Huhn an der Gedenktafel für die zerstörte Synagoge vom 7. November 2014

Ich spreche zu Euch anlässlich des 76. Jahrestages der Reichspogromnacht 1938. Aber ich hoffe, Ihr seid nicht nur gekommen, um an diesem Tage und zu dieser Zeit hier gewesen zu sein.

Sicher ist alleine schon das wichtig. Dem zu gedenken, was hier vor 76 Jahren geschah, am 7. November 1938 und was in der Folge am 9. und 10. November 1938 in vielen Orten Deutschlands geschah:
– das Niederbrennen von Synagogen,
– die Zerstörung und Plünderung von jüdischen Geschäften,
– brutaler Terror gegen jüdischen Menschen – Männer, Frauen und Kinder – bis hin zur Ermordung.

Ihr wisst das alles, die meisten von Euch sind nicht zum ersten Mal hier, sondern ihr kommt jedes Jahr aufs Neue. Wie auch ich schon seid vielen Jahren am 7. November an den Veranstaltungen der VVN teilnehme.
Ihr wisst, dass es nicht der spontane Volkszorn war, wie es die Nazis vorgaben, sondern eine geplante Aktion von SA und SS auf Befehl ihrer obersten Führer.
Ihr wisst, dass der Anschlag von Herschel Gryspan auf den deutschen Diplomaten Ernst von Rath in Paris nur der willkommene Anlass war für eine Terror-Welle bisher nicht gekannten Ausmaßes.
Ihr wisst, dass das Niederbrennen der Kasseler Synagoge für die in München versammelte Naziführung das Vorbild für die anschließenden reichsweiten Aktionen war.
Goebbels gab die Losungen aus und die Gauleiter eilten an die Telefone und gaben den Startschuss.
Ziel war es die Juden endgültig aus dem sozialen und wirtschaftlichen Leben hinauszudrängen und dabei ordentlich Kasse zu machen.
All das wissen wir nicht nur heute, sondern das war auch schon damals bekannt.
Und deshalb möchte ich Euch eine Botschaft mitgeben aus dem Jahre 1938, von einem Mann namens Konrad Heiden.
Ich zitiere jetzt aus seinem Anfang 1939 in Frankreich, in Schweden und in Großbritannien erschienen Buch:

Ein junger Jude, der in der Nacht vom 9. auf den 10. November in einer hessischen Kleinstadt das jüdische Gemeindehaus bewachen half, hat seine Erlebnisse in dieser Nacht geschildert. Es sind ruhige, schmucklose, ziemlich unbeholfene Zeilen. Wer sie liest hat den unbedingten Eindruck: so war es. Nichts Besonderes wird geschildert, nur das Übliche, aber die unheimliche Stimmung dieser Nacht kommt gut zum Ausdruck. So schreibt5 der junge Mensch:
‚ Am Mittwoch (9. November) wurde ein polnischer Staatsangehöriger, Inhaber eines kleinen Ladens, von arischen Bekannte gewarnt, dass am Abend gegen halb elf Uhr etwas geschehen solle. Derartige Warnungen waren schon häufig gekommen. Bei dem übernervösen Zustande unserer Menschen, wäre es zu einer vollkommenen Panik gekommen, wenn wir die Warnung weitergegeben hätten.
Ich habe dann mit dem Verwalter im Gemeindehaus bis drei Uhr Wache gehalten. Anwesend waren außerdem noch seine Frau und ein jüdisches Mädchen, das im Wirtschaftsbetrieb tätig war. Es war alles ruhig und die Straßen waren leer. Gegen zwei Uhr nachts kam ein junger Mann zum Haus gelaufen, der, als er es ruhig im Dunkel da liegen sah, einen Augenblick zögerte und dann wieder wegging.
Gegen drei Uhr beschlossen wir, die Wache für diese Nacht einzustellen, da wir nicht vermuteten, dass zu so später Stunde die Volkswut noch überkochen würde. Ich wollte mich gerade hinlegen, als ich irgend ein Geräusch hörte, dass ich nicht mehr genau bestimmen kann. Ich ging sicherheitshalber noch einmal in das an der Straße gelegene Zimmer zurück. Als ich den Raum betrat, hörte ich sofort den Lärm eines Motorradmotors. Ich lief ans Fenster und sah einen SA-Mann auf einem Motorrad sitzen; aus dem gegenüberliegenden Haus kam ein anderer, stieg auf den Soziussitz und gab dem Führer eine Adresse in der Nachbarschaft an. Beide Leute trugen Dienstuniformen mit heruntergelassenen Sturmriemen. Es war halb vier Uhr.
Ich ging auf die Straße, um zu sehen, was vor sich ging oder gehen sollte. ich konnte tatsächlich bemerken, dass von allen Seiten SA-Leute nach einem Sammelplatz eilten. Als ich dort entlangging, sah ich einen unteren SA-Führer. Den größten Teil der ankommenden Männer schickte er sofort weiter, um die nach Abwesenden zur Eile anzutreiben oder zu holen. Bei ihm stand ein Zivilist, der sich darüber beschwerte, dass es so lange dauere. Es wurde ihm entgegnet, dass man selbst auf dem Sturm-Büro erst gegen drei Uhr nachts benachrichtigt worden sei. Ich vermute, dass dieser Zivilist ein Mitglied der Geheimen Staatspolizei war, der die Listen der jüdischen Wohnungen und Geschäfte hatte.
Ich kehrte ins Haus zurück. Es war alles ruhig und die Straßen fast vollkommen menschenleer. Die SA wurde regelrecht zu dem besonderen Zweck aus den Betten geholt. Gegen zwanzig Minuten vor fünf Uhr kam ein alter Mann, besah sich das Haus von allen Seiten und schien einigermaßen verwundert, dass da alles so ruhig war.
Um fünf Minuten vor fünf fuhr ein kleiner Wagen vor, aus dem vier SS-Leute in Uniform sprangen. Ich habe an einem die Abzeichen eines Obersturmbannführers erkannt und dieser gab auch im weiteren Verlauf die Befehle. Es wurde kurz geschellt und an die Tür geklopft. Gleichzeitig wurde bereits begonnen, die Scheiben von außen einzuschlagen. Einige SS-Leute kletterten hinein und zerschlugen in der Küche das zum Spülen aufgestapelte Geschirr sowie Stühle, Tische und die sonstige Einrichtung… ‚
Und unterm Klirren von Scheiben und Geschirr verlassen wir unseren Gewährsmann.
Sehr gut, sicher unbewusst hat er die Atmosphäre dieser Nach geschildert, ihre Spannung, ihre Angst, aber noch mehr ihre Rätselhaftigkeit. Was treibt die Nazis eigentlich an? Warum sausen sie auf Motorrädern durch die Nacht, warum kommen sie mit schallenden Schritten, wenn alles schläft, was haben ihnen die Fensterscheiben und das Geschirr getan. Der Schreiber hat offenbar längst verlernt so zu fragen; das ist eben so. Sie kommen, wann es ihnen beliebt, und wenn sie kommen kracht und klirrt es.

Einige Seiten weiter ist dem dem Buch von 1939 zu lesen:
In einer weiteren westdeutschen Großstadt versuchte ebenfalls ein solcher Trupp sich eines Verhafteten, eines Rechtsanwalts K. auf schnelle Weise zu entledigen. Sie stießen ihn mit dem Kopf abwärts in ein im Straßenpflaster eingebautes Kanalrohr, das für gewöhnlich mit einem Gitter bedeckt war; das Gitter hatten sie abgehoben. Das Rohr war aber zu eng die Arme des Opfers klemmten sich ein. Darauf wurde er wieder herausgezogen und später durch Messerstiche getötet.
Das seien extreme Fälle, könnte man sagen, Darum hier ein sozusagen durchschnittlicher Fall erzählt als ein Beispiel für viele: In einer hessischen Kleinstadt wurde ein jüdischer Arzt samt seiner Frau über die Vortreppe seines Hauses hinuntergeworfen. Die Frau brach den Arm. Dann wurde der Mann mit Schlägen durch den Ort gejagt, auf freiem Feld brach er zusammen. Einer seiner Peiniger wollte ihn ins Wasser werden, doch unterblieb das. Man nahm ihm die Uhr weg er blieb liegen, offenbar für tot gehalten. Nach einiger Zeit kam er zu sich. Ein Sanitätsauto kam zufällig vorbei, der Misshandelte bat um Mitnahme. Dies wurde ihm gewährt, falls er dreißig Mark zahlen könne. Glücklicherweise hatte er seine Brieftasche behalten.

Konrad Heiden, der Autor des Buches aus dem ich hier so ausführlich zitiert habe, war Journalist und schon 1933 aus Deutschland emigriert. Besonders verhasst war der Sozialdemokrat Heiden bei Nazis für seine vielen nazi-kritischen Zeitungsartikel schon in der Weimarer Republik. 1938 in Paris lebend sprach er im November 1938 mit vielen Flüchtlingen und wertete die deutsche und internationale Presse aus, um dieses erste Buch über die Novemberpogrome zu schreiben.

Heiden beschreibt nicht nur, sondern er analysiert auch die Ziele der Nazis. Dazu zitiert er lange aus der Ausgabe der SS-Zeitung „Schwarzes Korps“ vom 24. November 1938. Der Autor dieses Artikels schreibt, dass man ja nun die Juden in Deutschland jeglicher Existenzmöglichkeiten beraubt hätte und der Artikel endet mit den Worten:
Am Wenigsten haben wir Lust, in diesen Hunderttausenden verelendeter Juden eine Brutstätte des Bolschewismus und eine Auffangorganisation für das politische-kriminelle Untermenschentum zu sehen, das durch den natürlichen Ausleseprozess am Ende unseres eigenen Volkstums abbröckelt.
Im Stadium einer solchen Entwicklung ständen wir daher vor der harten Notwendigkeit, die jüdische Unterwelt genauso auszurotten, wie wir in unserem Ordnungsstaat Verbrecher eben auszurotten pflegen: mit Feuer und Schwert. Das Ergebnis wäre das tatsächliche und endgültige Ende des Judentums in Deutschland seine restlose Vernichtung.

Soweit der Originalton SS, Heiden schreibt dann weiter:
Es wird empfohlen, den letzten Absatz nochmals zu lesen. Man erinnere sich gewisser Taten, die in der Nacht vom 9. auf den 10. November geschahen. Man setze voraus, dass es keine Verworfenheit gibt, die grundsätzlich unmöglich wäre. Ein Massenmord wird gewünscht. Unter welchen technischen Formen diese Massenhinrichtung sich vollziehen sollen, können wir nur vermuten.
In dem Buche „Mein Kampf“ hat der Verfasser auf Seite 772 den Rat gegeben, die zu tötende Menschenmenge „unter Giftgas zu halten“. Er spricht dort freilich nur von zwölf- oder fünfzehntausend. Inzwischen ist der Vernichtungswille in den leitenden Schichten des Regimes zweifellos gewachsen; zum guten Teil deshalb, weil sie ihre bisherigen Taten, entgegen der eigenen Erwartung, ohne wesentlichen Widerstand oder gar Strafe begehen konnten. Niemand wird sich nach den Erfahrungen der letzten Jahre heute noch erlauben, einen Satz aus „Mein Kampf“ nicht sehr ernst zu nehmen. Von hohen Führern des Regimes wird heute gerne die Wendung „auf den Knopf drücken“ gebraucht, wobei sich die Zuhörer nie recht klar sind, ob sie das Gesagte ganz ernst nehmen sollen; erläuternd wir – immer noch unter der Maske der eventuellen Scherzhaftigkeit – gesagt: alle Juden werde man in einem großen Raum versammeln und dann durch Knopfdruck das Gas auslösen.

Heiden schrieb dies Ende 1938.
Sein Buch „Eine Nacht im November 1938“ erschien 2013 erstmalig in deutscher Sprache.

Gedenken kann manchmal weh tun und mich persönlich ist es beim Lesen dieses Buches eiskalt über den Rücken gelaufen, dass hier einer die Konsequenzen des Novemberpogroms so klarsichtig vorausgesehen hatte.

Das Gedenken weist aber auch in die Zukunft und muss uns wachsam sein lassen. „Der Schoß ist fruchtbar noch“, Ihr kennt diese Aussage von Bertolt Brecht. Die rechtsradikale Terrorbande des sog. „Nationalsozialistischen Untergrunds“ hat aufs Neue bewiesen wie recht er hatte.

Daran sollten wir denken, in unserem Gedenken. Und Handeln. – Solidarisch. Gemeinsam. – Bei jeder Gelegenheit. – Durch Wort und Tat.
Gegen Rassismus, Antisemitismus und Neofaschismus.