Gedenken, Friedenskampf und Antifaschismus heute

geschrieben von Silvia Gingold

8. April 2012

Bei der traditionellen Zwischenkundgebung am Mahnmal für die Deportation in Kassel „Die Rampe“ hielt Silvia Gingold nachfolgende Rede:

Wenn ich an unserem traditionellen Stopp des Ostermarsches hier am Mahnmal „die Rampe“ diesen Güterwaggon sehe, muss ich an meine Tante Dora denken, die Schwester meines Vaters, Peter Gingold. Sie schrieb im Februar 1943: „Ich bin jetzt im verplombten Wagen. Es ist gar nicht so schlimm, wie man sich das vorstellt. Wir haben sogar sehr viel Luft von drei Gitterfenstern. Die Türen und Fenster sind aus ganz morschen Brettern. Ich hoffe, dass es ganz leicht sein wird, auszurücken… Macht Euch keine Sorgen um mich, bleibt mir gesund – wir werden uns zurückfinden, es wird schon alles gut werden. Es küsst Euch Eure Dora“. Das war Doras letztes Lebenszeichen. Seitdem fehlt von ihr jede Spur. Auf dem Transport von Paris nach Auschwitz in einem dieser Güterwaggons, gelang es ihr, diesen Brief, mit dem sie die Familie beruhigen wollte, aus dem Zug zu werfen. Dora wie auch ihr Bruder Leo, mein Onkel, der unter tragischen Umständen durch die Gestapo verhaftet wurde, gehörten zu den Hunderttausenden Juden, die nach qualvoller Fahrt an der Rampe in Auschwitz in den Tod geschickt wurden und entweder in den Gaskammern oder , geschwächt von Arbeit, Hunger und Kälte, ein qualvolles Ende fanden. Die in Kassel geborene Künstlerin Eva René Nele schuf in den 80er Jahren das Mahnmal mit dem Titel „Die Rampe – Ankunft und Ende“, um an die Deportationen, Selektionen und Vernichtung von Menschen durch die Faschisten, an das Leiden und Sterben vieler Kasseler Juden, an die Ausbeutung tausender Zwangsarbeiter durch die in Kassel ansässige Firma Henschel zu erinnern. Welch aktuelle Bedeutung ihr Mahnmal hier an diesem Ort heute wieder erlangen würde, hat sich die Künstlerin sicher so nicht vorstellen können. Bis hierher in die Kasseler Nordstadt führt die Blutspur der Neonazis, wo Halit Yozgat als 9. Opfer rassistischen Terrors ermordet wurde. Auf einmal gaben sich die politisch Verantwortlichen in unserem Land überrascht und entsetzt. Eine Verkettung von Fehlern und Pannen habe die rechtzeitige Aufklärung der Morde verhindert. Welch eine Heuchelei! Als ob die Neonazis vom Himmel gefallen wären. Als ob es keine Orte wie Solingen, Mölln, Hoyerswerda gegeben hätte, Orte, die stellvertretend für zigfache brutale rassistisch motivierte Angriffe auf Menschen in unserem Land stehen; als ob bei uns nicht seit Jahren der Boden für ein Klima des Ausländerhasses, der Angst vor „Überfremdung“ bereitet wurde; als ob ein in vielen Medien hoch gelobter Sarrazin diese Angst durch seine rassistischen und menschenverachtenden Thesen nicht noch weiter geschürt und angeheizt hätte. Als ob diese Morde nicht geschehen konnten, obwohl der Verfassungsschutz die Naziterroristen im Visier hatte. Vor diesem Verfassungsschutz muss die Verfassung geschützt werden! Denn von Anfang an machte sich dieses Amt die Erfahrungen von früheren Mitarbeitern von SS, Gestapo und NS-Geheimdiensten zunutze. Der ehemalige SS-Obersturmbannführer Kurt Lischka beispielsweise, der für die Deportation von 76.000 Juden aus Frankreich in Konzentrationslager verantwortlich war, konnte bis 1980 unbehelligt in der Bundesrepublik leben und war zeitweilig Mitarbeiter des Bundesamtes für Verfassungsschutz. Und auch in der Regierung, der Verwaltung und Justiz, bei Polizei, Militär und Geheimdiensten nahmen nach 1945 in der Bundesrepublik ehemalige Nazifunktionäre wieder führende Positionen ein. Der Schriftsteller Bernt Engelmann stellte in den 70er Jahren fest: „Verblüffenderweise sitzen heute von den ehemaligen Führern der Terroristengruppe nur wenige hinter Gittern, aber etliche im Bundestag.“ Antifaschistische Widerstandskämpfer erklärten 1997 in einem „Appell an die Jugend“:„Als wir 1945 befreit waren, hielten wir es für unvorstellbar, dass ihr als Nachgeborene erneut mit Nazismus, Rassismus, mit auflebendem Nationalismus und Militarismus konfrontiert würdet“. Es war für sie auch unvorstellbar, dass diejenigen, die in der antifaschistischen Tradition der Widerstandskämpfer stehen, für ihr Engagement einmal bespitzelt, verhört, Berufsverbot bekommen würden, wie dies in den 70er Jahren tausendfach geschah. Und sie konnten es sich auch nicht vorstellen, dass Nazigegner, die sich den Neonazis in den Weg stellen, heute unter Beobachtung des Verfassungsschutzes stehen, kriminalisiert, tausendfache Handy-Daten von ihnen gespeichert und sie Strafverfolgungen ausgesetzt werden, während die Polizei Aufmärsche der Neonazis schützt. Als meine Eltern, die in Frankreich in der Résistance gegen Hitler kämpften, später als Zeitzeugen oft gefragt wurden, ob sie angesichts dieses wieder erstarkenden Rassismus nicht resignieren, antworteten sie sinngemäß Hitler, Krieg und Auschwitz waren möglich, weil die Antifaschisten, die Demokraten, die Sozialdemokraten und Kommunisten nicht zusammenstanden… Erst im illegalen Widerstand, im Zuchthaus und KZ haben wir uns verständigt und niemanden mehr gefragt, wer er sei. Aber es war zu spät. Schrecklich waren die Folgen. Wiederholt unsere Fehler nicht, macht es besser als wir, steht zusammen! Die Faschisten sind nicht an die Macht gekommen, weil sie stärker waren als ihre Gegner, sondern weil wir uns nicht rechtzeitig zusammengefunden haben. Dafür gab es nur eine einzige Entschuldigung. Viele haben nicht gewusst, zu welchen Verbrechen der Faschismus fähig sein würde. Aber heute haben wir alle diese Erfahrung. Heute gibt es keine Entschuldigung, wenn wir nicht rechtzeitig die drohenden Gefahren von rechts stoppen.

Es ist gut, dass die Stadt Kassel den Platz vor dem Hauptfriedhof nach Halit Yozgat benennen will. Es ist gut, dass die 7 betroffenen Städte der Mordserie ein gemeinsames Zeichen gegen den Neonazi-Terror setzen wollen. „Nie wieder!“ lautet die gemeinsame Mahnung. „Nie wieder“ muss heißen: Den Neonazis darf keinen Fußbreit Raum gewährt werden, nicht in Kassel und nicht anderswo! Projekte gegen Nazis müssen gefördert und dürfen nicht durch die unsägliche Extremismusklausel behindert werden. Die NPD und alle rassistischen, antisemitischen und ausländerfeindlichen Aktivitäten müssen verboten werden.