Krieg begann in Kassel – auch in der Geschichte

31. August 2024

Am 31. August fand die Antikriegstags-Kundgebung mit guter Resonanz vor dem Kasseler Rathaus statt. Die Ansprache von Margot Käßmann, der Hauptrednerin, findet man auf der Homepage des Kasseler Friedensforums. Nachfolgend die Ansprache der VVN-BdA:

Mit Blick auf die aktuelle friedenspolitische Lage – nicht nur in der Ukraine oder im Israel-Gaza Krieg, sondern auch bei mehreren Dutzend militärischen Konflikten in der Welt, die aus der bundesdeutschen medialen Aufmerksamkeit verschwunden sind, fragt es sich, warum wir überhaupt an den 110. Jahrestag des Beginns des Ersten Weltkrieges am 1. August 1914 und den 85. Jahrestag des Überfalls auf Polen, den Beginn des kriegerischen Teils des Zweiten Weltkrieges, erinnern. Erkennbar hat die Menschheit, haben die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker aus diesen historischen Erfahrungen wenig bis gar nichts gelernt.
Dennoch sollten wir, die Zivilgesellschaft an diese beiden Daten erinnern, weil sie uns auch in der heutigen Situation, in der Vertreter der Bundesregierung von „Zeitenwende“ und „Kriegstüchtigkeit“ sprechen, wichtige Erkenntnisse vermitteln können, wie solche kriegerischen Katastrophen vorbereitet wurden – und das auch in unserer Stadt.

Wenn ich an den Ersten Weltkrieg denke, dann reicht für historisch Kundige bereits das Stichwort Fritz Fischer-Debatte. Anfang der 1960er Jahren war es ein geschichtspolitischer Skandal, als der deutsche Historiker Fritz Fischer an Hand von Quellen aus der kaiserlichen Verwaltung belegen konnte, dass das wilhelminische Deutschland mit klarem Plan und sehenden Auges einen Krieg um den „Platz an der Sonne“ und die deutsche Weltmachtstellung vorbereitete. Es ging um Rohstoffe, Einflusszonen und die Vormacht in Mitteleuropa. Und nicht wenige dieser Planungstermine fanden hier in Kassel statt, im Schloss Wilhelmshöhe, in das der Kaiser seine militärischen Berater in seine „Sommerresidenz“ eingeladen hatte. Und es überrascht nicht, dass die militärisch geschlagene Generalität nach der Kapitulation 1918 wiederum im Schloss Wilhelmshöhe ihr Quartier aufschlug, als es um die Demobilisierung ging. Gelernt hatte dieser Generalstab aus der Niederlage und den verheerenden Konsequenzen des ersten Krieges nichts, wie das „Truppenamt“ der Reichswehr schon in der Weimarer Zeit bewies, als man sich bereits 1925 mit der Planung für den nächsten Krieg beschäftigte.

Wie dieser zweite Weg in den Krieg aussehen sollte, das hat die Hitler-Regierung schon 1933 mit der Reichswehrführung besprochen und in den folgenden Jahren mit Konsequenz umgesetzt.
Damit die Bevölkerung rechtzeitig und direkt in diese Kriegsvorbereitung eingebunden werden konnte, begann man schon 1933 mit einer ideologischen Einstimmung auf einen erneuten Waffengang. Dazu gehörte die Inszenierung „Luftschutz tut Not“ in der Karlsaue, bei der eine Pappmasche Silhouette der Kasseler Altstadt von Doppeldecker-Flugzeugen, die vom Fieseler-Flugfeld in Waldau aufgestiegen waren, mit Brandbomben zerstört wurde. Die Bürger wurden aufgefordert, auf ihren Dachböden Sandeimer und Feuerpatschen als „Luftschutz-Maßnahme“ bereitzustellen.
Während die Kriegswaffen- und Panzerproduktion in Kasseler Betrieben vor allem von den Beschäftigten wahrgenommen wurde, die Rüstungskonjunktur führte auch hier zu Vollbeschäftigung, zielten die jährlichen „Reichskriegertage“ auf die öffentliche Kriegseinstimmung. Die dort vertretenen Botschaften waren klar: Deutschland erwarte „Gleichberechtigung“, was faktisch meinte, dass die Verantwortung für den Ersten Weltkrieg aus dem öffentlichen Bewusstsein eliminiert werden sollte. Die Mächte des „Völkerbundes“ sollten die Militarisierung akzeptieren, gleichzeitig wurde die „Rückgabe deutscher Gebiete“ gefordert, was nichts anderes bedeutete als expansionistische Gebietsansprüche gegen fast alle Nachbarstaaten.
Zu diesen „Reichskriegertagen“ trafen sich auf dem Friedrichsplatz mehrere tausend Veteranen des ersten Weltkrieges und Einheiten der militärischen NS-Verbände zu großen öffentlichen Aufmärschen. Im Frühjahr 1939 fand der erste „großdeutsche Reichskriegertag“ statt, zu dem die Nazi-Regierung auch Diplomaten aus Berlin nach Kassel einlud, um ihnen diese „Heerschau“ zu präsentieren. Selbst Hitler ließ es sich nicht nehmen, anzureisen und in seiner Ansprache zu verkünden, nach dem Anschluss Österreichs, des Sudentengebietes und der Rest-Tschechei seien eigentlich alle territorialen Ansprüche erfüllt, Polen müsse nur noch die Frage des „Korridors“ und des Status der „Freien Stadt Danzig“, die jedoch unter Völkerbund-Kontrolle stand, im Sinne Deutschlands klären.
Wir wissen heute, dass zum Zeitpunkt dieser Rede im Generalkommando der Wehrmacht – und zwar hier in Kassel, in dem Protzgebäude am Bahnhof Wilhelmshöhe – der Kriegsplan gegen Polen, der „Fall Weiß“, bereits fix und fertig vorlag. Es war also niemals an eine „friedliche Lösung“ gedacht.
Die Konsequenzen des Krieges für unsere Stadt kennt ihr alle. Das Bombardement vom 22./23. Oktober 1943 war zwar das schwerste, aber nicht der letzte alliierte Bombenangriff auf die Stadt und seiner Einwohner. Die Innenstadt, die Altstadt der damaligen „Gauhauptstadt Kassel“ existierte anschließend nicht mehr.
Wenn wir uns an diese historischen Erfahrungen erinnern, dann ist es nachvollziehbar, dass es schon in den 1950er Jahren in dieser Stadt demonstrative Aktionen gegen Remilitarisierung und Rüstungsproduktion oder gegen Sprengschächte in Brücken und Hauptverkehrsstraßen gab. Es waren Arbeiterorganisationen und die Zivilgesellschaft, die in Kassel Verantwortung für den Frieden übernahmen. Daran zu erinnern heißt heute, uns klarzumachen, welche Verantwortung wir haben.
Das Thema Frieden ist viel zu wichtig, als dass wir es Politikern, Rüstungsprofiteuren oder gar dem Militär überlassen dürfen.
Frieden und Völkerverständigung sind und bleiben unsere Aufgabe.