8. Mai Ansprache Silvia Gingold

8. Mai 2024

Auf der Gedenkkundgebung am Ehrenmal für die Opfer des Faschismus in Kassel, zu der der DDG Kreis Kassel, das Kasseler Friedensforum, die NaturFreunde Kassel, Stolpersteine in Kassel e.V. und die VVN-BdA Kreisvereinigung Kassel eingeladen hatte und an der etwa 60 Personen teilnahmen, hielt Silvia Gingold, Tochter von Ettie und Peter Gingold, die in der französischen Resistance gekämpft hatten, nachfolgende Rede:

Foto: Klaus Brocke

„Die Befreiung! Der deutsche Faschismus endgültig zerschmettert, die Menschheit vor dem Untergang in die Barbarei gerettet! Ich hatte Tränen der Freude, aber auch der Trauer, wenn ich an all jene dachte, die ihr Leben für diesen Tag eingesetzt hatten, ihn aber nicht mehr erleben konnten.“ So erinnert sich mein Vater Peter Gingold an den Tag der Befreiung, den 8. Mai, den er in Turin unter den jubelnden Italienern erlebte.
Die Befreiung – es war der Sieg der Menschheit über die barbarischen Kriegsverbrechen der Nazis, den millionenfachen Mord, die systematische, menschenverachtende Massenvernichtung nach Plan. Auch einige meiner Familienangehörigen fielen diesem Naziterror in der Gaskammer von Auschwitz zum Opfer.
Den Jubel über den Untergang des mörderischen Nazistaates, wie ihn meine Eltern in Frankreich, mein Vater in Italien erlebt hatten, den hat es damals in Deutschland nicht gegeben. Nein, die Deutschen haben den 8.Mai nicht selbst herbeigeführt. Es waren die Kräfte der Antihitlerkoalition und die Kräfte des internationalen Widerstands, denen wir für ihren aufopferungsvollen Kampf um die Befreiung vom Faschismus zu Dank verpflichtet sind. Allein das sowjetische Volk opferte 27 Millionen Menschenleben.
Lange Zeit wurde nach dem Ende des Krieges in der Bundesrepublik Deutschland vom 8.Mai als Tag der Niederlage, des Zusammenbruchs, der Katastrophe, der dunkelsten Stunde deutscher Geschichte gesprochen.
Vor mehr als 40 Jahren erklärte meine Mutter dazu:
„Dieser Tag, von dem an keine Mutter mehr um ihre Kinder zittern, nicht mehr voller Ängste in die Luftschutzkeller rennen musste, das Ende des Inferno der explodierenden Bomben, keine Soldaten mehr in die Schlachtfelder und ins Massengrab getrieben, keine Transporte mehr in die Gaskammern von Auschwitz, der Tag, an dem sich die Tore der Zuchthäuser und Konzentrationslager öffneten, das Ende der Zuchthaus- und KZ-Qualen, keine Blutrichter mehr, die Todesurteile mehr fällen konnten. Das soll die dunkelste Stunde, die Katastrophe unserer deutschen Geschichte sein? Nein, wir haben allen Grund, diesen Tag zu feiern, der das dunkelste, das entsetzlichste, das schrecklichste Kapitel deutscher Geschichte beendete und uns das Kostbarste brachte – den Frieden.“

40 Jahre hat es gedauert, bis ein Bundespräsident, Richard von Weizsäcker, vom 8. Mai als „Tag der Befreiung“ sprach.
Nie wieder Faschismus – nie wieder Krieg, das schworen die Überlebenden des barbarischen NS-Regimes, das war der Grundkonsens nach dem Ende des Krieges 1945, der auch das Grundgesetz vor 75 Jahren prägte. Niemals mehr sollte von deutschem Boden ein Krieg ausgehen.
Als meine Eltern 1945 aus dem Exil in Frankreich, wo sie an der Seite der Résistance gegen Hitler kämpften, nach Deutschland zurückkehrten, hatten sie die Hoffnung, dass Rassismus, Nationalismus, Antisemitismus und Antikommunismus nie wieder fruchtbaren Boden finden würden.
Wie schnell waren ihre Illusionen zerplatzt. Sie haben es sich nicht vorstellen können, dass in unserem Land ehemalige Nazifunktionäre wieder Karriere machen könnten.
„Niemand von uns, den Überlebenden“, so mein Vater im Jahr 2005, „konnte sich vorstellen, dass es in diesem Land je wieder Aufrüstung, Militär, Militarismus, geschweige denn wieder deutsche Waffen und Soldaten in aller Welt geben könnte.
Mit „nie wieder Auschwitz“ wurde der Angriffskrieg gegen Jugoslawien 1999 legitimiert. Es war der erste Kriegseinsatz der Bundeswehr nach 1945. Seitdem zählen militärische Auslandseinsätze der Bundeswehr zur Normalität.
Die Deutschen haben aufgrund ihrer Geschichte eine besondere Verantwortung, nie wieder an Kriegen beteiligt zu sein und alles zu tun, sich für ihre Beendigung und für friedliche Lösungen einzusetzen. Stattdessen trägt unsere Regierung heute durch eine gigantische, nie dagewesene Aufrüstung und Waffenlieferungen in die Kriegsgebiete zur Eskalation der kriegerischen Konflikte in der Ukraine und in Nahost bei. Die beschlossenen 100 Milliarden für die Bundeswehr reichen manchen Politikern nicht mehr, schon ist von 300 Milliarden die Rede, um die Bundeswehr „kriegstüchtig“ zu machen und die Militarisierung voranzutreiben.
Die Deutschen haben angesichts ihrer Geschichte eine besondere Verantwortung und Verpflichtung für den Schutz jüdischen Lebens, für die Existenz und Sicherheit Israels. Unerträglich aber finde ich es, wenn Kriegsverbrechen an der palästinensischen Bevölkerung, als Antwort auf Verbrechen der Hamas, mit dem von Nazideutschland begangenen Völkermord an Juden legitimiert werden. Ich finde es unerträglich, wenn der Holocaust instrumentalisiert wird, wenn jede Kritik am Vorgehen des israelischen Militärs, wenn Proteste gegen die Jahrzehnte andauernde Besatzungspolitik und ihre bedingungslose Unterstützung durch die Bundesregierung, wenn alles dies als „antisemitisch“ kriminalisiert und zum Schweigen gebracht wird. Ich finde es unerträglich, wenn die Solidarität mit der palästinensischen Zivilbevölkerung, die Zehntausende Opfer im Gaza zu beklagen hat, deren Infrastruktur im Gaza durch flächendeckende Bombardierung erbarmungslos zerstört wird, die Menschen von Hungersnot bedroht sind, wenn diese Solidarität mit dem Stigma des „Antisemitismus“ behaftet wird. Mitgefühl und Solidarität mit dem Leiden der palästinensischen Bevölkerung und ein Ende der Kriegshandlungen zu fordern, hat nichts mit Judenhass, nichts mit Antisemitismus zu tun. Es geht um Menschlichkeit, um ein friedliches, gleichberechtigtes und menschenwürdiges Leben der palästinensischen und der jüdischen Bevölkerung. Das kann niemals militärisch, sondern nur durch ein Ende der Besatzung erreicht werden.
Antisemitisch dagegen sind die Anschläge auf Synagogen, Schändung von Gedenkstätten und Stolpersteinen, Verharmlosung des Holocaust durch Neonazis und Politiker der AfD, für die die NS-Zeit ein „Vogelschiss der Geschichte“ und das Holocaust-Mahnmal „ein Mahnmal der Schande“ ist. Äußerungen von Politikern der AfD, die im Bundestag sitzen. Sie schüren mit ihren antisemitischen und rassistischen Äußerungen Hass auf Migranten und prägen ein Klima, das zur Aushöhlung des Asylrechts durch die Regierungsverantwortlichen geführt hat. Das Grundrecht auf Asyl ist ein Menschenrecht. Es war die Antwort auf den Faschismus, der viele Verfolgte in die Flucht aus Deutschland in andere Länder trieb, um den Mördern zu entkommen. In vielen Ländern fanden sie Asyl und solidarische Hilfe.
Heute, in einer Zeit zunehmender kriegerischer Konflikte und sozialem Elend treibt es immer mehr Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen. Statt sich dem Schutz der Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, anzunehmen, werden an den EU-Außengrenzen, auch mit Zustimmung unserer Regierung, Ghettos errichtet, um Asylsuchende abzuwehren und zurückzuschicken. Wir dürfen nicht nachlassen, uns gegen dieses inhumane Vorgehen, gegen Rassismus und Ausgrenzung, gegen die menschenverachtenden Remigrationspläne rechter Kräfte zur Wehr zu setzen, so wie es zig Tausende Menschen vor ein paar Wochen auf den Straßen zum Ausdruck brachten. Denn, so mahnte mein Vater: „Die Faschisten sind nicht an die Macht gekommen, weil sie stärker waren als ihre Gegner, sondern weil wir uns nicht rechtzeitig zusammengefunden haben“.
Nie wieder Krieg – nie wieder Faschismus, der 8.Mai muss ein nationaler Feiertag werden. Wir brauchen keinen „Veteranentag“, an dem die Kriegseinsätze der Bundeswehrsoldaten geehrt werden.
Wir brauchen einen Tag der Hoffnung auf eine Welt ohne Krieg, Elend und Unterdrückung, so wie es die Auschwitz-Überlebende Esther Bejarano ausdrückte: „Ein Tag, an dem die Befreiung der Menschheit vom NS-Regime gefeiert werden kann. Das ist überfällig seit sieben Jahrzehnten… Am 8.Mai wäre dann die Gelegenheit, über die großen Hoffnungen der Menschheit nachzudenken: Über Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Schwesterlichkeit.“