8. Mai 1945 – 2023: Ansprache am Mahnmal „Die Rampe“
8. Mai 2023
In diesem Jahr fanden in Kassel zwei Gedenkaktionen statt. Um 12:00 h kamen etwa 50 Studierende am Mahnmal „die Rampe“ zusammen, um 16:00 h gut 100 Bürgerinnen und Bürger aus Kassel im Ehrenmal für die Opfer des Faschismus. Es waren zwei würdige öffentliche Formen des Gedenkens und Erinnerns. Der Vertreter der Kasseler Kreisvereinigung der VVN-BdA war auf beiden Veranstaltungen als Sprecher eingeladen. Hier die Ansprache:
Ich spreche hier als Vertreter der VVN-BdA, einer Organisation, die vor über 75 Jahren von Frauen und Männern aus dem antifaschistischen Widerstand, Verfolgten und Überlebenden der faschistischen Haftstätten gegründet wurde, in der heute die Generation der nachgeborenen Antifaschistinnen und Antifaschisten das politische Vermächtnis bewahren und in die heutige Zeit übersetzen.
Wir stehen hier an dem Mahnmal „Die Rampe“, was uns gemeinsam erinnert an die verheerendste Konsequenz der faschistischen Herrschaft in Deutschland und über Europa, nämlich an die industriell organisierte Massenvernichtung von Menschen, die nicht in die Rasse-Ideologie der faschistischen Herrschaft passten, Jüdinnen und Juden, Sinti*zze und Sinti, Romnja und Roma neben anderen Gruppen, die aus der faschistischen „Volksgemeinschaft“ ausgeschlossen wurden.
Wir erinnern hier üblicherweise am 27. Januar, also an dem Tag der Befreiung dieses Vernichtungslagers durch die militärischen Einheiten der sowjetischen Armee 1945.
Heute erinnern wir an den „Tag der Befreiung von Faschismus und Krieg“. Selbst wenn uns allen heute diese Formulierung so leicht von den Lippen geht, so möchte ich doch daran erinnern, welcher politischen Auseinandersetzungen es bedurfte, den 8. Mai in der BRD tatsächlich als „Befreiung“ zu benennen. Erst 1985 benutzte zum ersten Mal ein deutscher Bundespräsident, nämlich Richard von Weizsäcker diese Begrifflichkeit. Bis dahin sprachen die meisten Politiker in der BRD von Niederlage, Kapitulation oder Katastrophe – aber nicht davon, dass an diesem Tag auch die deutsche Bevölkerung vom Faschismus befreit wurde, selbst diejenigen, die noch bis 5 Minuten nach 12 „in Treue fest“ mit dem NS-Regime verbunden waren.
Es waren insbesondere die Frauen und Männer aus dem antifaschistischen Widerstand, die Überlebenden des faschistischen Terrors, die diesen Tag tatsächlich als Befreiung erlebten.
In Kassel hatte die Befreiung durch die alliierten Streitkräfte bereits einige Wochen vorher stattgefunden. Es waren die Ostertage 1945, als amerikanische Einheiten das Kasseler Becken erreichten und nach wenigen Tagen den letzten Widerstand von Wehrmacht, Volkssturm und SS-Verbänden zerschlugen. Am 4. April 1945 kapitulierten die letzten Wehrmachtseinheiten, nachdem sie noch mehrere Tage – also bis 5 Minuten nach 12 – unsinnigen Widerstand geleistet hatten und damit den Tod weiterer Menschen zu verantworten hatten.
Sie hatten mit diesem militärischen Widerstand auch zu verantworten, dass in den letzten Stunden vor der Befreiung der Stadt die Gestapo und SS noch drei Verbrechen begehen konnten. Sie ermordeten am Karfreitag 1945 zwölf Häftlinge des Zuchthaus Wehlheiden, darunter Wolfgang Schönfeld, der 1944 als Deserteur verhaftet worden war, ohne irgendein Urteil auf dem Wehlheider Friedhof.
Sie ermordeten am Ostersamstag 78 italienische Zwangsarbeiter und einen sowjetischen Häftling angeblich wegen Plünderung – sie hatten sich aus einem aufgebrochenen Wehrmachtstransport auf dem Bahnhof Wilhelmshöhe Lebensmittel genommen. Sie wurden ebenfalls standrechtlich erschossen. Verantwortlich war in beiden Fällen der Leiter der Kasseler Gestapo Franz Marmon. Auf seinen Befehl hin wurden ebenfalls am Ostersamstag 28 Häftlinge des Arbeitserziehungslagers Breitenau, darunter 16 sowjetische, 10 französische und 2 niederländische Gefangene von SS-Leuten in den Fuldabergen bei Guxhagen ermordet.
Es scheint mir heute wieder nötig zu sein, an diese Verbrechen zu erinnern, um die Perspektive, die mancher Zeitgenosse mit dem Kriegsende verbindet, die „Deutschen seien doch auch Opfer gewesen“, deutlich zu relativieren.
Die Frauen und Männer aus dem antifaschistischen Widerstand, die Überlebenden des faschistischen Terrors, verstanden den 8. Mai auch deshalb als Befreiung, weil er ihnen den Weg zum Aufbau einer antifaschistisch-demokratischen und friedlichen Gesellschaft eröffnete. Auch hier in Kassel entstanden in den Betrieben und Stadtteilen „antifaschistische Komitees“, die von Angehörigen der Arbeiterparteien und Gewerkschaften und einigen liberalen Bürgern getragen wurden. Sie setzten sich nicht nur ein für die Beseitigung der Trümmer und die Reorganisation des alltäglichen Lebens, sondern auch für politische Konsequenzen, die ausgehend von der Losung „Nie wieder Faschismus! Nie wieder Krieg!“ einen tatsächlichen Neubeginn ermöglichen sollten.
Die politische Losung „Nie wieder Krieg!“ haben beispielsweise die Arbeiter in Kassel konkret übersetzt mit „Nie wieder ‚Tiger-Stadt‘!“. Und als im Deutschen Bundestag über die Remilitarisierung diskutiert wurde, kam es in Kassel zum ersten politischen Streik, als die Arbeiter von Henschel und anderen Unternehmen spontan auf die Straße gingen und gegen die Wiederaufrüstung protestierten. Wir alle wissen, dass dieser politische Widerstand nicht von Erfolg gekrönt war.
Umso dringender ist es für mich, in Erinnerung an den Jahrestag der Befreiung der Stadt und der damaligen Verpflichtung „Nie wieder Krieg!“ heute für ein Ende der Kriegsproduktion in unserer Stadt und für Rüstungskonversion einzutreten. Natürlich wusste man damals und wissen wir heute, dass mit Rüstung enorme Profite gemacht werden. Aber damals war es auch im allgemeinen Bewusstsein, dass solche Profite Blutgeld sind – bezahlt mit dem millionenfachen Tod der Zivilbevölkerung, mit den Opfern auch in dieser Stadt. Und dies gilt gerade auch in Zeiten des Krieges in der Ukraine, bei dem deutsche Rüstungskonzerne, wie zum Beispiel KMW in Kassel bereits extreme Profite einkalkulieren.
Und wir sollten auch die zweite Losung des 8. Mai 1945 nicht vergessen: „Nie wieder Faschismus!“ Natürlich wissen wir, dass ein faschistisches Regime nicht vor der Tür steht, aber wenn wir heute den Tag der Befreiung begehen, müssen wir auch daran erinnern, dass vor 17 Jahren der neofaschistische Mordterror des Netzwerkes des NSU in Kassel zugeschlagen hat. Halit Yozgat wurde am 6. April 2006 in Kassel ermordet. Und es ist nur kurze Zeit her, als Anfang Juni 2019 der Kasseler Regierungspräsident Walter Lübcke von dem Neofaschisten Stefan Ernst und seinem Komplizen brutal ermordet wurde. Das sind nur zwei blutige Beispiele, die unsere Losung bestätigen „Faschismus ist keine Meinung, sondern ein Verbrechen“.
Und in diesem Sinne ist und bleibt für uns der 8. Mai der Tag der Befreiung, aber auch ein Tag der Mahnung und der Selbstverpflichtung, das Vermächtnis der Überlebenden politisch fortzusetzen.
Und damit sich das nicht an „runden Jahrestagen“ und in Sonntagsreden ausdrückt, hat die Auschwitz Überlebenden Esther Bejarano, die leider vor einiger Zeit verstorben ist, im Januar 2020 eine Petition auf den Weg gebracht „Der 8. Mai muss Feiertag werden“. Bis Mitte vergangenen Jahres hatten mehr als 175.000 Menschen diese online-Petition unterstützt. In einer Zwischenbilanz wurden die ersten 100.000 Unterschriften an den Deutschen Bundestag übergeben. Mit dem Abschluss der Petition wurde die Liste der 175.000 den politisch Verantwortlichen in Person des damaligen Bundesratspräsidenten, Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow, offiziell überreicht.
Die politischen Lehren des 8. Mai umzusetzen, bedeutet für uns heute:
– AfD, NPD und ihre Verbündeten aufzuhalten – und natürlich solche Provokationen, wie den Auftritt Höckes am heutigen Tag in Weimar,
– das Treiben gewalttätiger und mordender Neonazis zu unterbinden, ihre Netzwerke in Polizei und Bundeswehr aufzudecken und aufzulösen,
– einzugreifen, wenn Menschen jüdischen Glaubens, Muslime, Roma und Sinti und andere, die nicht in das Weltbild von Nazis passen, beleidigt und angegriffen werden,
– die Logik des Militärischen zu durchbrechen und Waffenexporte zu verhindern und
– die Diffamierung und Behinderung demokratischer und antifaschistischer Initiativen und Verbände durch Geheimdienste und andere staatliche Einrichtungen zu beenden.
In diesem Sinne forderte Esther Bejarano: „Der 8. Mai muss ein Feiertag werden! Ein Tag, an dem die Befreiung der Menschheit vom NS-Regime gefeiert werden kann. Das ist überfällig seit sieben Jahrzehnten.“ Das galt 2020, als sie ihren offenen Brief formulierte, und gilt heute und morgen.