Kassel erinnert an die Judendeportation 1941
10. Dezember 2022
Am frühen Abend des 9. November 2022 erinnerten Stolpersteine in Kassel e.V. und VVN-BdA Kreisvereinigung Kassel mit einem Gedenkgang von der Arnold-Bode-Schule zum Kulturbahnhof auf dem „Weg der Deportierten“ an die erste Deportation von über 1000 jüdischen Menschen aus Nordhessen nach Riga. Am Sammelpunkt informierte Frank-Matthias Mann ausführlich über die historischen Hintergründe. Zum Abschluss formulierte Ulrich Schneider für die VVN-BdA, warum solche öffentlichen Gedenkaktionen notwendig sind.
Wir erinnern und gedenken erneut in aller Öffentlichkeit an diesen Deportationstermin. Manch eine/ einer von euch war bereits am 7. November in diesem Jahr mit unserem traditionellen Gedenkgang zur Reichspogromnacht in Kassel, zu dem wir als Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten – kurz: VVN-BdA seit fast 25 Jahren einladen, hier vor Ort. Und wir werden auch in den kommenden Jahren immer wieder hierher kommen.
Nicht nur, weil wir zur Erinnerung den „Weg der Deportieren“ beschreiten wollen, sondern weil wir damit sichtbar und erlebbar machen wollen, dass sich diese menschenverachtende Politik vor den Augen der Kasseler Bürgerinnen und Bürger abgespielt hat. Und sie hat sich nicht nur „vor alle Augen“ abgespielt, sondern es wurde auch mit Neugierde, teilweise mit aktiver Beteiligung – und in vielen Fällen mit persönlicher Vorteilnahme umgesetzt.
Ich betone das deshalb, weil die Kriegs- und Nachkriegsgeneration gerne darauf hinwies, man habe von alle dem nichts gewusst. „Hitler war es!“
Das war nicht nur eine Lebenslüge, sondern auch eine Form der Verdrängung, mit der die eigene Verantwortung aus dem gesellschaftlichen Diskurs verdrängt werden sollte.
Vor wenigen Tagen wurde Fritz Bauer, der Frankfurter Generalstaatsanwalt, der in den 1960er Jahren den Auschwitz-Prozess auf den Weg gebracht hat, posthum mit der Wilhelm-Leuschner-Medaille des Landes Hessen geehrt. Dass dies erst Jahrzehnte nach seinem Tod erfolgte, verdeutlicht einmal mehr, welche enormen Vorbehalte die tatsächliche Aufarbeitung der faschistischen Verbrechen überwinden musste. Die meisten kennen Fritz Bauers Ausspruch über die Abgrenzung der damaligen Gesellschaft gegen seine Vorbereitung des Auschwitz-Prozesses. Heute ist es weniger eine Ausgrenzung, sondern eher Ignoranz und Nichtwahrnehmen.
Nun, wo die Generation der Täter und der Tatbeteiligten faktisch nicht mehr vorhanden ist, geht es nicht mehr darum, diesen einen Spiegel vorzuhalten, sondern vielmehr darum, dem Vergessen entgegenzuarbeiten. Natürlich kann man darauf verweisen, dass es eine große Zahl von verdienstvollen Veröffentlichungen zu den Themen gibt. Mehrere der heute hier Anwesenden haben mit ihren eigenen Forschungen und Veröffentlichungen dazu einen wichtigen Beitrag geleistet. Auch die neue Verantwortliche im Kasseler Stadtarchiv hat sich vorgenommen, die vorhandenen Unterlagen zu diesem historischen Kapitel handhabbar zu machen. Es geht also gar nicht in erster Linie um die weitere Erforschung der Verbrechen – obwohl es auch hier noch offene Fragen gibt –, es geht vielmehr um die Präsenz im gesellschaftlichen Bewusstsein der Zivilgesellschaft.
Dazu reichen keine offiziellen Gedenkveranstaltungen im Rathaus Bürgersaal, auch wenn sie ein Zeichen dafür sind, dass das Thema von der Stadtverwaltung wahrgenommen wird. Vielmehr muss es um eine lebendige Erinnerung in der zivilgesellschaftlichen Öffentlichkeit gehen, so wie sie die Stolpersteine, die blaue Linie auf dem „Weg der Deportierten“ oder die Gedenktafeln an sichtbarer Stelle es ermöglichen.
Dabei geht es gerade um die Erinnerung an die Menschen selber, die als Verfolgte, als Opfer den faschistischen Verbrechen ausgeliefert wurden. Die NS-Täter trachteten danach, sie zu anonymisieren. Die Menschen wurden in Massentransporten, die nur noch nach Hunderten zählten, verschleppt, in den Lagern und Haftstätten wurde ihnen – wenn sie denn überhaupt registriert wurden, der Name und die Identität geraubt und durch Nummern und Winkel ersetzt. Es ist die Herausforderung der heutigen und zukünftigen Generationen, ihnen für heute ihre Identität – und damit auch ein Stück ihre Menschenwürde – wieder zurückzugeben, indem wir an die Verbrechen erinnern und auch die Opfer benennen.
Ein weiterer Gedanke ist mir wichtig. Schon am 1. April 1933 zeigten die Nazis mit der öffentlichen Ausgrenzung und Stigmatisierung jüdischer Geschäfte, Arztpraxen und Rechtsanwaltkanzleien, dass der Umgang mit jüdischen Menschen zukünftig nicht mehr akzeptiert ist. Obwohl das NS-Regime noch lange nicht fest im Sattel saß, gab es keinen „Aufschrei des Entsetzens“ der Mehrheitsgesellschaft. Vielmehr waren die „ordentlichen Bürger“ bis zur Deportation bereit, alle ausgrenzenden Verordnungen und Gesetze „pflichtgetreu“ umzusetzen. Direkt und mittelbar Beteiligten an der Ausgrenzung, Ausplünderung und Verfolgung konnten sich damit beruhigen, man befolge ja „nur“ Gesetze. Wir haben vorhin gehört, wohin das führte.
Mit Blick auf diese verbrecherischen Konsequenzen stellt sich – gerade auch für heutige Generationen – die Frage, ob wir aufmerksam und politisch sensibel genug sind, solche Ausgrenzungen, Rassismus und Antisemitismus in seinen vielfältigen und subtilen Formen nicht nur wahrzunehmen, sondern auch mit aller Entschiedenheit und Klarheit zurückzuweisen. Nur dann hat Erinnerung einen Wert, wenn es nicht nur um die Trauer um die Opfer geht, sondern auch um gesellschaftliche Konsequenzen für unser Gemeinwesen.
Und wir sollten dran erinnern – und das ist ein zentrales Anliegen unserer Organisation, der VVN-BdA –, dass es auch in Kassel Menschen gab, die sich diesem Regime aus politischer oder humanistischer Überzeugung widersetzt haben, trotz aller Gefahren für ihre Gesundheit, ihre Freiheit oder gar ihr Leben. Sie waren eine Minderheit.
Für einige von ihnen haben wir in Kassel bereits Erinnerungszeichen, Stolpersteine, Gedenktafeln oder Straßennamen. Exemplarisch nenne ich nur Traugott Eschke, Kurt Finkenstein, Paula Lohagen, Max Mayr oder Konrad Merle. An diesen Widerstand zu erinnern, ist mir auch im Gedenken an die Opfer der Massenverbrechen immer wieder wichtig. Sie repräsentieren das – wie man es früher sagte – „andere Kassel“. Das ist eine positive Tradition, an die wir in unserem historischen Gedenken anknüpfen können.
In diesem Sinne ist unser Gedenken nicht retrospektiv oder allein historisch orientiert, sondern auf heutige Generationen bezogen. Sie sollen die Möglichkeit bekommen, sich nicht nur mit den verbrecherischen Ereignissen in ihrem eigenen Umfeld und den Strukturen, die das ermöglicht haben, zu beschäftigen, sondern auch die Menschen dahinter erkennen, die als Verfolgte davon betroffen waren, aber auch diejenigen, die bereit waren sich dem zu widersetzen. Das ist eine Botschaft für heute und morgen.