Ansprache zum 75. Jahrestag der Reichspogromnacht

9. November 2013

Wir gedenken heute des 75. Jahrestages der Reichspogromnacht und der damit verbundenen Verbrechen der Nazis gegen jüdische Bürger dieser Stadt. Für uns ist und bleibt die Erinnerung an die Verbrechen damals verbunden mit der Mahnung und Warnung, Antisemitismus und Rassismus niemals zu tolerieren. Und wenn wir heute an die Reichspogromnacht erinnern, die bekanntlich in Kassel am 7. November 1938 ihren Ausgang nahm, dann erinnern wir auch daran, dass vor etwa zwei Jahren der neofaschistische Terror in Form des NSU öffentlich geworden ist, ein Terror, der hier in Kassel mit Halit Yozgat im Jahre 2006 eines seiner 10 Todesopfer gefunden hat.

Niemand wird auf die verquere Idee kommen, das staatlich organisierte Verbrechen vor 75 Jahren und die darauf folgende Massenvernichtung mit dem neofaschistischen Terror heute gleichsetzen zu wollen.

Aber der Terror der NSU und die anderen über 180 Opfer der rassistischen Politik in unserem Lande seit 1990 zeigen, dass Rassismus und Antisemitismus keine historischen Phänomene sind, sondern eine ganz gegenwärtige Bedrohungen unserer demokratischen Gesellschaft und der hier lebenden Menschen, die als Fremde angesehen werden, bedeuten. Und wenn ich von Rassismus spreche, muss ich gar nicht bis nach Lampedusa schauen, sondern es reicht der Blick auf die Aktionen des rassistischen Mobs in Berlin-Hohenschönhausen gegen eine Flüchtlingsunterkunft und die rassistischen Aufmärsche in Schneeberg im Erzgebirge gegen ein geplantes Asylbewerber-Heim. Etwa 1800 Menschen beteiligten sich in diesem 2000 Seelen-Ort an dem Aufmarsch. Aber ich will auch nicht vergessen die antifaschistischen Aktivitäten zu erwähnen: In Berlin ist es den demokratischen Kräften mittlerweile gelungen, deutliche Gegensignale zu setzen, selbst in Schneeberg stellten sich 500 Personen gegen den rassistischen Aufmarsch.

Zwar erleben wir in Kassel keine solchen Aufmärsche, jedoch mahnen uns uns aus den vergangenen Jahren Schmierereien, Schändungen des jüdischen Friedhofs, Angriffe auf den Rabbiner der jüdischen Gemeinde und andere antisemitische Provokationen an die Alltäglichkeit des Rassismus.

Deshalb dürfen wir nicht allein rechten und rassistischen Terror thematisieren, sondern wir müssen auch Rassismus in staatlichen, medialen und gesellschaftlichen Institutionen und Diskursen zum Thema machen.

Dagegen benötigen wir – und das ist eine Aufgabe der Politik, die nicht nur salbungsvolle Worte des Gedenkens finden darf –

  • eine dauerhafte Stärkung der zivilgesellschaftliche Beobachtung/ Monitoring der extremen Rechten,

  • die umfassende und schonungslose Aufklärung aller Vorgänge bei den Sicherheits- und Geheimdiensten in Bezug auf die extreme Rechte sowie

  • den Ausbau und die dauerhafte Absicherung einer flächendeckenden, zivilgesellschaftlichen Auseinandersetzung mit der extremen Rechten (insbesondere für Mobile Beratungsteams und Opferberatungsstellen.

Zur gesellschaftlichen Auseinandersetzung gehört es, dass wir uns mit den gesellschaftlichen Wurzeln und Traditionen des Antisemitismus auch in unserer Stadt Kassel auseinandersetzen. Aus diesem Grunde führen wir wie in jedem Jahr – diesmal im Rahmen der 1100 Jahr-Feier – unseren traditionellen Gedenkgang auf den Spuren von Verfolgung, Ausgrenzung und Deportation durch.